Babylon: Thriller
Prolog
Die Götter haben uns verlassen,
wie Zugvögel sind sie verschwunden.
[Unsere Stadt] wird zerstört, bitter ist ihre Klage.
Des Landes Blut füllt ihre Wunden
wie geschmolzene Bronze eine Gussform,
Leiber zerfließen wie Fett in der Sonne.
Unser Tempel wird geschleift,
Rauch bedeckt unsere Stadt wie ein Leichentuch,
ein Strom von Blut füllt die Straßen.
Das Klagen der Männer und Frauen
kündet von unendlicher Trauer.
[Unsere Stadt] gibt es nicht mehr.
Klage über die Zerstörung von Ur, ca. 2000 v. Chr.
Noch Stunden vor dem letzten Angriff glaubten nur wenige, dass die Stadt fallen würde. Wer sollte die stolzen Tore von Istar aufbrechen, wer diese starken Brücken über den Tigris stürmen? Waren die Soldaten der Nation nicht überall zu sehen? Wurde der Palast, der sich im stillen Flusswasser spiegelte, nicht bestens verteidigt? Hatte der Herrscher nicht verkündet, dass alles gut würde?
Doch am zehnten Tag des Monats Nissan, ein von den Eindringlingen klug gewählter Zeitpunkt, um die brutale Sommerhitze zu meiden, fiel die Stadt, mit derselben Leichtigkeit zertrümmert wie ein Vogelei. Soldaten flohen, warfen ihre Kampfkleidung weg und versteckten sich zwischen den Bürgern. Frauen sammelten ihre Kinder ein und suchten Schutz in dunklen Räumen. Brände tobten und ließen Häuser zu Asche zerfallen. Flammen verschlangen das überreich gefüllte Büfett aus Papyrus- und Pergamentrollen in der großen Bibliothek. Leichen lagen überall unbeachtet auf den Straßen oder trieben den Fluss hinunter wie ertrunkenes und aufgeblähtes Vieh. Käfige mit exotischen Tieren und Vögeln, die die Leute zu ihrem Vergnügen gehalten hatten, wurden aufgerissen, die Tiere gestohlen und zum Verzehr geschlachtet. Statuen des Herrschers wurden geschändet; der Mann selbst war nirgendwo aufzufinden.
Die Zwillingsschwester des Krieges, die Plünderung, raste entfesselt durch die Straßen. Weder die bescheidenen Besitztümer der gewöhnlichen Bürger noch die weiten Hallen und Säle voller Schätze wurden verschont. Wie ein Schwarm hungriger Krähen, die sich um das gleiche Stück Beute streiten, raubten die Plünderer wertvolle Elfenbeinminiaturen, Halsschmuck aus Chalzedon und Lapislazuli, Tempelfiguren und Alabastervasen. Ein Mann zerschmetterte den Kopf eines Terracottalöwen aus dem Harmel-Tempel. Ein anderer saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Fußboden und brach Intarsien aus der Lyra von Ur.
Am 14. April 2003 gab Bagdad sich geschlagen. Seine Schatzkammer, das berühmte irakische Nationalmuseum, gehörte zu den Opfern des Krieges.
Ein Dieb – ein schlanker Mann mit rabenschwarzem Haar und bleicher Haut – schlängelte sich geschickt durch die Menschenmenge. Auf seinem linken Handgelenk trug er ein auffälliges Muttermal, einen seltsam geformten Fleck in der Farbe getrockneten Blutes. Der Dieb betrachtete die zahllosen Hände, die nach Beute grabschten, mit einem amüsierten Grinsen. Sie hatten keine Ahnung, was sie da an sich nahmen. Der Dieb, seiner Herkunft nach der missratene Sohn eines belgischen Diplomaten, hatte zehn Jahre lang in Bagdad gelebt und kannte das Museum wie seine Westentasche.
Unter seiner weit geschnittenen schwarzen Jacke trug er in einer speziellen Scheide an einem Gürtel ein Viking-Tactics-Assault-Messer um den Leib, das für jeden bestimmt war, der ihm zu nahe kam. Er war nur wegen zwei Objekten gekommen. Das erste, der lebensgroße, aus Kupfer gefertigte Kopf der Siegesgöttin aus dem alten Hatra, befand sich bereits in seiner Reisetasche. Das zweite Objekt, ein noch viel bedeutenderes Relikt, war nun fast in Reichweite. Aus diesem Grund ließ er den Mann namens Tomas Zakar, dem er unauffällig folgte, für keine Sekunde aus den Augen.
Tomas Zakar senkte den Kopf und presste die Hände auf die Ohren, als ob das Ausblenden des Geschehens das Gemetzel stoppen könnte. Die Ereignisse ließen sich nicht verdrängen. Banden von Plünderern benutzten die Griffe und Kolben ihrer Maschinenpistolen, um Vitrinen zu zerschlagen, und beluden Schubkarren mit Tongefäßen, die dabei teilweise beschädigt wurden oder ganz zerbrachen.
Fast das gesamte Archiv des Museums war auf den Fluren und Sälen verstreut und in Brand gesetzt worden. Die Akten brannten wie Zunder. Tomas fiel auf die Knie, um die Flammen mit bloßen Händen zu löschen. Sein Bruder Ari zerrte ihn weg. »Lass das, Tomas. Du holst dir nur schlimme Verbrennungen.«
Tomas wehrte ihn ab und steuerte auf
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