Die Kinder des Ketzers
Erlass, der die Zerstörung des «Ketzerdorfes» Mérindol und die Hinrichtung seiner Bewohner zum Inhalt hatte. In den folgenden Tagen zog Maynier an der Spitze eines Söldnerheeres durch den Lubéron und ließ nicht nur Mérindol niederbrennen, sondern zusätzlich eine ganze Reihe weiterer Dörfer, in denen angeblich oder tatsächlich Angehörige der waldensischen Konfession lebten. Seinen traurigen Höhepunkt erreichte dieser
«Feldzug» in Carbrières du Comté, einem kleinen Ort am Rand des Gebirgszugs Vaucluse, wo von den ungefähr Tausend Einwohnern neunhundert von Mayniers Söldnerheer niedergemetzelt wurden. 1095
Insgesamt kostete der Arrêt de Mérindol etwa dreitausend Menschen das Leben. Die Details dieses Ereignisses sind heute vor allem deshalb noch bekannt, weil die Gräfin von Cental, zu deren Grundbesitz einige der zerstörten Dörfer gehörten, die Verantwortlichen – Jean Maynier, seinen Stellvertreter La Font, die Commissaires Tributiis und Badet und den Advocat du Roi Guérin – vor dem königlichen Gericht verklagte. Die Folge war ein Prozess, der über die Grenzen Frankreichs hinaus Aufsehen erregte. Zum Teil lag dies am Inhalt des Prozesses – es handelte sich immerhin um einen der ersten «Kriegsverbrecher-Prozesse» der Geschichte, der zu einer Zeit stattfand, wo es absolut nicht üblich war, dass hochgestellte Persönlichkeiten für Gräueltaten belangt wurden, die unter ihrem Kommando begangen worden waren. Der Prozess hatte daneben aber auch eine große innenpolitische Brisanz, da er eine Entscheidung des Parlaments von Aix zum Gegenstand hatte und damit die Autarkie der Regionalparlamente in Frage stellte – zumal der Prozess ausgerechnet vor der Großen Kammer des Parlaments von Paris verhandelt wurde. Viele Provenzalen werteten den Prozess daher als einen weiteren Versuch der französischen Zentralregierung, ihre Selbständigkeit zu schwächen, und stellten sich deshalb auf die Seite der Angeklagten, unabhängig davon, wie sie die Ereignisse des Arrêt de Mérindol bewerteten. Der Staatsbeamte Jacques Aubéry wurde vom französischen König Henri II. als Advocat du Roi, als königlicher Anwalt, bestellt (vergleichbar einem heutigen Staatsanwalt) und vertrat die Anklage. In seiner Anklageschrift, die später veröffentlicht wurde, sind die Ereignisse des Arrêt de Mérindol und der vorangehenden Jahre in großer Detailtreue niedergelegt. Obwohl Aubéry vermutlich keine Nachforschungen vor Ort betrieben hat – eine Reise in die Provence dauerte damals immerhin ungefähr zwei Wochen –, hat er, vermutlich über Mittelsmänner, zahlreiche Zeugenaussagen der überlebenden Opfer des Arrêts gesammelt. Auch die Unterlagen des Parlaments von Aix hat Aubéry offensichtlich ausgewertet, wobei ihm Historiker eine sehr exakte und wahrheitsgetreue Wiedergabe dieser Dokumente bescheinigen. 1096
Gemäß Aubérys Darstellung war es in erster Linie Jean Maynier, der auf die Ausführung des Arrêts gedrängt und sie schließlich auch durchgesetzt hat. Er soll es auch gewesen sein, der dafür sorgte, dass neben Mérindol noch zahlreiche andere Dörfer zerstört wurden, auf die sich der Arrêt eigentlich gar nicht bezog. Es fragt sich, was Maynier dazu trieb, derart fanatisch auf die Vernichtung der Waldenser zu drängen. Religiöser Fanatismus scheint die naheliegendste Erklärung zu sein, aber es gibt zahlreiche Spekulationen über andere Motive. Beliebt ist die Theorie, dass er um die Hand der Gräfin Cental angehalten hatte und zurückgewiesen worden war. Es gibt auch in der Tat Indizien dafür, dass er bewusst versucht hat, gerade die Gräfin Cental zu schädigen
– in den Ermittlungen, die das Parlament von Aix in den Jahren vor 1545 führte, wurde keines der Dörfer der Cental in Zusammenhang mit den Waldensern gebracht, dennoch wurden sie ausnahmslos zerstört. Wenn die Geschichte mit Mayniers Heiratsantrag an die Gräfin Cental wahr ist, so steckten hinter diesen Heiratsplänen aber vermutlich weniger emotionale Gründe als handfeste wirtschaftliche Interessen. Aubérys Bericht spricht zumindest dafür, dass es Maynier und den ihn unterstützenden Adligen in erster Linie darum ging, sich die zu den Dörfern gehörenden Ländereien anzueignen. Sowohl Maynier als auch viele Parlamentsmitglieder und nicht zuletzt Mayniers Verwandte – die Familien Jansoun, Faucoun und Pourrières – haben sich laut Aubéry im Rahmen des Arrêt de Mérindol bereichert.
Aubérys Bericht zufolge hat sich
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