Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Zahl, habe ich ihm gesagt. Die Zahlen gehen ewig weiter. Aber was hat das damit zu tun?«
»Es gibt gute Unendlichkeiten und schlechte Unendlichkeiten, Simón. Wir haben schon einmal über schlechte Unendlichkeiten gesprochen – erinnerst du dich? Eine schlechte Unendlichkeit ist, als befinde man sich in einem Traum innerhalb eines Traumes innerhalb eines weiteren Traumes, und so weiter ohne Ende. Oder als befinde man sich in einem Leben, das nur ein Vorspiel zu einem anderen Leben ist, das nur ein Vorspiel ist, et cetera. Aber die Zahlen sind nicht so. Die Zahlen stellen eine gute Unendlichkeit dar. Warum? Weil sie, da sie unendlich von Anzahl sind, alle Räume im Universum ausfüllen, eng wie Ziegelsteine aneinandergefügt. Wir sind also sicher. Man kann nirgendwo hineinfallen. Weise den Jungen darauf hin. Das wird ihn beruhigen.«
»Das werde ich tun. Aber irgendwie glaube ich nicht, dass ihn das trösten wird.«
»Versteh mich nicht falsch, mein Freund. Ich bin nicht auf der Seite des Schulsystems. Ich gebe zu, es wirkt steif, sehr altmodisch. Meiner Ansicht nach spricht viel für eine mehr praktische, mehr beruflich orientierte Ausbildung. David könnte Klempner werden oder Zimmermann, zum Beispiel. Dafür braucht man keine höhere Mathematik.«
»Oder für die Arbeit der Schauerleute.«
»Oder für die Arbeit der Schauerleute. Das ist ein völlig ehrenwerter Beruf, wie wir beide wissen. Nein, ich stimme dir zu: Dein Junge wird unfair behandelt. Trotzdem haben seine Lehrer nicht ganz unrecht, oder? Es geht nicht nur darum, die Regeln der Arithmetik zu befolgen, sondern Regeln allgemein zu lernen. Señora Inés ist eine sehr nette Dame, doch sie verwöhnt das Kind unmäßig, das kann jeder sehen. Wenn ein Kind beständig verhätschelt wird und ihm gesagt wird, dass es etwas Besonderes ist, wenn ihm gestattet wird, sich seine eigenen Regeln zu schaffen, zu was für einem Mann wird es heranwachsen? Vielleicht schadet ein wenig Disziplin in diesem Lebensabschnitt David nichts.«
Obwohl er Eugenio gegenüber das größte Wohlwollen empfindet, obwohl ihn sowohl seine Bereitschaft, sich mit einem älteren Kameraden anzufreunden, als auch seine vielen Gefälligkeiten gerührt haben, obwohl er ihn für den Unfall im Hafen keineswegs verantwortlich macht – so plötzlich an die Schalthebel eines Krans gesetzt, hätte er es auch nicht besser gemacht –, hat er es nie über sich gebracht, den Mann wirklich von Herzen gern zu haben. Er findet ihn spröde und engstirnig und selbstgefällig. Seine Kritik an Inés empört ihn. Aber er hält sich zurück.
»Es gibt zwei Theorien über die Kindererziehung, Eugenio. Die eine besagt, wir sollen sie formen wie Ton, sie zu rechtschaffenen Bürgern bilden. Die andere besagt, dass wir nur einmal Kinder sind, dass eine glückliche Kindheit die Grundlage für ein späteres glückliches Leben ist. Inés gehört zu der letzteren Schule; und weil sie seine Mutter ist, weil die Bindung zwischen einem Kind und seiner Mutter heilig ist, folge ich ihr. Deshalb – nein, ich glaube nicht, dass mehr von der Disziplin des Schulzimmers gut für David ist.«
Sie setzen die Fahrt schweigend fort.
Bei der Ostsiedlung bittet er den Fahrer zu warten, während Eugenio ihm aus dem Auto hilft. Zusammen arbeiten sie sich langsam die Treppe hoch. Im zweiten Stock angekommen, erwartet sie ein bestürzender Anblick. Vor Inés’ Wohnung stehen zwei Personen, ein Mann und eine Frau, in identischer dunkelblauer Uniform. Die Tür ist geöffnet; von drinnen ist Inés’ Stimme zu hören, schrill, zornig. »Nein!«, sagt sie. »Nein, nein, nein! Sie haben nicht das Recht!«
Was die Fremden daran hindert hineinzugehen – wie er beim Näherkommen sieht –, ist der Hund, Bolívar, der sich auf der Schwelle duckt, die Ohren angelegt, die Zähne entblößt, leise knurrend, jede ihrer Bewegungen belauernd, bereit, loszuspringen.
»Simón!«, ruft Inés ihm zu, »sag diesen Leuten, sie sollen weggehen! Sie wollen David in dieses entsetzliche Erziehungsheim zurückbringen. Sag ihnen, dass sie nicht das Recht dazu haben!«
Er holt tief Luft. »Sie haben kein Recht auf den Jungen«, sagt er, die uniformierte Frau ansprechend, die klein und hübsch wie ein Vogel ist, im Gegensatz zu ihrem ziemlich untersetzten Begleiter. »Ich habe ihn hierher nach Novilla gebracht. Ich bin sein Vormund. Ich bin in jeder Beziehung, die wichtig ist, sein Vater. Señora Inés« – er deutet auf Inés – »ist in jeder
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