Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
nicht, wegen meiner Schmerzen. Aber für dich kann ich alles tun: Treppen steigen, auf Pferden reiten, alles. Du musst nur das Wort sagen.«
»Welches Wort?«
»Das Zauberwort. Das Wort, das mich gesund machen wird.«
»Kenne ich das Wort?«
»Natürlich kennst du es. Sag es.«
»Das Wort ist … Abrakadabra!«
Er stößt die Bettdecke weg (glücklicherweise hat er den Krankenhaus-Schlafanzug an) und schwingt seine dünnen Beine über die Bettkante. »Ich brauche Hilfe, Jungs.«
Sich auf die Schultern von Fidel und David stützend, richtet er sich unsicher auf, macht den ersten wackligen Schritt, den zweiten. »Siehst du, du kennst das Wort! Inés, kannst du den Rollstuhl etwas näher bringen?« Er lässt sich in den Rollstuhl gleiten. »Und jetzt machen wir eine Spazierfahrt. Ich möchte sehen, wie die Welt ausschaut, nach der langen Zeit hier drinnen. Wer möchte schieben?«
»Kommst du nicht mit uns nach Hause?«, fragt der Junge.
»Das dauert noch eine Weile. Erst muss ich wieder zu Kräften kommen.«
»Aber wir werden Zigeuner sein! Wenn du im Krankenhaus bleibst, kannst du kein Zigeuner sein!«
Er wendet sich an Inés. »Was soll das? Ich dachte, wir hätten die Zigeunergeschichte aufgegeben.«
Inés wird steif. »Er kann nicht wieder in die Schule. Ich erlaube es nicht. Meine Brüder kommen mit uns, beide. Wir nehmen das Auto.«
»Vier Leute in der alten Klapperkiste? Wenn die nun zusammenbricht? Und wo wollt ihr unterkommen?«
»Das ist egal. Wir werden Gelegenheitsarbeiten machen. Wir werden Obst pflücken. Señor Daga hat uns Geld geliehen.«
»Daga! Also steckt er dahinter!«
»Nun, David geht nicht wieder in diese schreckliche Schule.«
»Wo sie dich zwingen, Sandalen zu tragen und Fisch zu essen. Für mich klingt das nicht so schrecklich.«
»Da sind Jungen, die rauchen und trinken und Messer bei sich haben. Es ist eine Schule für Verbrecher. Wenn David dorthin zurückgeht, wird er Narben für sein ganzes Leben davontragen.«
Der Junge spricht. »Was heißt das,
Narben für sein ganzes Leben davontragen
?«
»Das ist nur so eine Redensart«, sagt Inés. »Es bedeutet, die Schule wird eine schlechte Wirkung auf dich haben.«
»Wie eine Verwundung?«
»Ja, wie eine Verwundung.«
»Ich habe schon eine Menge Wunden. Ich habe sie vom Stacheldraht. Willst du meine Wunden sehen, Simón?«
»Deine Mutter hat etwas anderes gemeint. Sie meint eine Verwundung deiner Seele. Die Art von Wunde, die nicht heilt. Stimmt es, dass Jungen in der Schule Messer bei sich haben? Bist du sicher, dass es nicht nur ein Junge ist?«
»Es sind viele. Und sie haben dort eine Mutterente und kleine Entlein und einer der Jungen ist auf eins der Entlein getreten und sein Inneres ist aus seinem Bauch herausgekommen und ich wollte es zurückschieben, aber der Lehrer hat es nicht erlaubt, er hat gesagt, ich muss das Entlein sterben lassen, und ich habe gesagt, ich will es beatmen, aber er hat es nicht erlaubt. Und wir mussten Gartenarbeit machen. Jeden Nachmittag nach der Schule mussten wir umgraben. Ich hasse Umgraben.«
»Umgraben ist gut für dich. Wenn keiner umgraben wollte, hätten wir keine Ernten, keine Nahrung. Umgraben macht dich stark. Du bekommst davon Muskeln.«
»Man kann Samen auf Löschpapier wachsen lassen. Unser Lehrer hat es uns gezeigt. Man braucht nicht umzugraben.«
»Ein oder zwei Samen, ja. Aber wenn man eine ordentliche Ernte will, wenn man genug Weizen wachsen lassen will, um Brot zu backen und die Menschen zu ernähren, dann muss der Samen in die Erde gesteckt werden.«
»Ich hasse Brot. Brot ist langweilig. Ich mag Eis.«
»Ich weiß, dass du Eis magst. Aber du kannst dich nicht von Eis ernähren, wohl aber von Brot.«
»Man kann sich von Eis ernähren. Señor Daga tut es.«
»Señor Daga tut nur so, als ernähre er sich von Eis. Für sich allein isst er Brot, wie jeder andere auch, da bin ich sicher. Überhaupt solltest du dir nicht Señor Daga zum Vorbild nehmen.«
»Señor Daga macht mir Geschenke. Du und Inés, ihr macht mir nie Geschenke.«
»Das ist nicht wahr, mein Junge, nicht wahr und nicht nett. Inés liebt dich und kümmert sich um dich, und ich auch. Während Señor Daga, in seinem Herzen, überhaupt keine Liebe für dich hat.«
»Doch, er liebt mich! Er möchte, dass ich bei ihm wohne! Er hat es Inés gesagt und Inés hat es mir gesagt.«
»Ich bin sicher, dass sie da nie zustimmen wird. Du gehörst zu deiner Mutter. Dafür haben wir doch die ganze Zeit
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