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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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zwei gleich vier. Es ist eine universelle Regel, unabhängig von uns, überhaupt nicht menschengemacht. Selbst wenn du und ich nicht mehr existierten, würden zwei und zwei weiterhin gleich vier sein.«
    »Ja, aber
welche
zwei und
welche
zwei machen vier? Die meiste Zeit, Eugenio, denke ich, das Kind versteht einfach Zahlen nicht, wie auch eine Katze oder ein Hund sie nicht versteht. Aber ab und zu muss ich mich fragen: Gibt es irgendjemanden auf der Erde, für den Zahlen realer sind?
    Als ich im Krankenhaus war und nichts anderes zu tun hatte, versuchte ich, als Denkübung die Welt mit Davids Augen zu sehen. Leg einen Apfel vor ihn hin und was sieht er? Einen Apfel: nicht
1
Apfel, nur
einen
Apfel. Leg zwei Äpfel vor ihn hin. Was sieht er? Einen Apfel und einen Apfel: nicht zwei Äpfel, nicht denselben Apfel zweimal, nur einen Apfel und einen Apfel.
    Jetzt kommt nun Señor León (Señor León ist sein Klassenlehrer) und fragt ihn:
Wieviele Äpfel, Kind?
Was ist die Antwort? Was sind
Äpfel
? Was ist der Singular, wovon
Äpfel
der Plural ist? Drei Männer in einem Auto unterwegs zur Ostsiedlung: Wer ist der Singular, wovon
Männer
der Plural ist – Eugenio oder Simón oder unser Freund, der Fahrer, dessen Namen ich nicht weiß? Sind wir drei, oder sind wir einer und einer und einer?
    Du hebst frustriert die Hände, und ich begreife, warum. Eins und eins und eins macht drei, sagst du, und ich muss zustimmen. Drei Männer in einem Auto – so einfach. Aber David will uns nicht folgen. Er will die Schritte nicht tun, die wir beim Zählen tun:
eins
Schritt,
zwei
Schritt,
drei
. Es ist als wären die Zahlen Inseln, die in einem großen schwarzen Meer des Nichts schwimmen, und er würde jedes Mal aufgefordert, die Augen zu schließen und über die Leere zu springen.
Wenn ich nun falle?
– das fragt er sich.
Wenn ich nun falle und dann ewig falle?
Mitten in der Nacht im Bett liegend, hätte ich manchmal schwören können, dass auch ich falle – unter demselben Bann, unter dem der Junge steht.
Wenn es so schwer ist, von eins zu zwei zu kommen
, habe ich mich gefragt,
wie soll ich jemals von null zu eins kommen?
Von nirgendwo zu irgendwo – das schien jedes Mal ein Wunder zu verlangen.«
    »Der Junge hat gewiss eine lebhafte Phantasie«, sinnt Eugenio. »Schwimmende Inseln. Aber das wird sich verlieren. Die Ursache dafür müssen lang bestehende Gefühle der Unsicherheit sein. Man kann nicht umhin zu bemerken, was für ein schwaches Nervenkostüm er hat, wie aufgeregt er ohne irgendeinen Grund wird. Gibt es dazu eine Vorgeschichte, von der du weißt? Haben sich seine Eltern viel gestritten?«
    »Seine Eltern?«
    »Seine richtigen Eltern. Hat er eine Narbe davongetragen, ein Trauma aus der Vergangenheit? Nein? Egal. Wenn er sich erst einmal sicherer in seiner Umgebung fühlt, wenn es ihm zu dämmern beginnt, dass das Universum – nicht nur das Reich der Zahlen, sondern ebenso alles andere – von Gesetzen beherrscht wird, dass nichts zufällig geschieht, wird er zur Vernunft kommen und sich beruhigen.«
    »Das hat seine Schulpsychologin gesagt. Señora Otxoa. Wenn er erst einmal seinen Platz in der Welt findet, wenn er akzeptiert, wer er ist, werden seine Lernschwierigkeiten verschwinden.«
    »Ich bin sicher, sie hat recht. Es braucht einfach Zeit.«
    »Vielleicht. Vielleicht. Aber was ist, wenn wir uns irren und er recht hat? Was, wenn es zwischen eins und zwei überhaupt keine Brücke gibt, nur Leere? Und was, wenn wir, die den Schritt so zuversichtlich tun, in der Tat durch den Raum fallen, nur dass wir es nicht wissen, weil wir darauf bestehen, unsere Augenbinde zu tragen? Was, wenn dieser Junge der Einzige unter uns ist, der Augen hat zu sehen?«
    »Das ist, als frage man:
Was, wenn die Verrückten eigentlich vernünftig und die Vernünftigen eigentlich verrückt sind?
Das ist, wenn du es mir nicht übelnimmst, Simón, Schuljungen-Philosophie. Einige Dinge sind einfach wahr. Ein Apfel ist ein Apfel ist ein Apfel. Ein Apfel und noch ein Apfel sind zwei Äpfel. Ein Simón und ein Eugenio sind zwei Fahrgäste in einem Auto. Ein Kind findet es nicht schwer, solche Aussagen zu akzeptieren – ein normales Kind. Es fällt ihm nicht schwer, weil sie wahr sind, weil wir von Geburt an sozusagen auf ihre Wahrheit eingestellt sind. Und was die Furcht vor den leeren Räumen zwischen den Zahlen angeht, hast du David schon einmal darauf hingewiesen, dass die Zahl der Zahlen unendlich ist?«
    »Mehr als einmal. Es gibt keine letzte

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