Die Knochen der Goetter
spürte er, wie etwas an seinem Fuß zupfte.
Neugierig blickte er nach unten.
Er hatte richtig vermutet. Zu seinen Füßen saß Minster und schaute ihn aus ihren schwarzen Knopfaugen auffordernd an.
»Minster!«
Seit die Bisamratte Rufus sein Fragment gebracht hatte, fühlte er eine tiefe Zuneigung zu dem Tier. Und auch diesmal schien Minster irgendetwas von ihm zu wollen. Mit kleinen Bewegungen zupfte die Bisamratte weiter an Rufus’ Hosenbein, als wolle sie, dass er ihr folge.
Dann tippelte sie in einen Abzweig der hohen Büchergänge.
Rufus ging ihr nach.
Nach ungefähr zwanzig Metern blieb Minster stehen. Sie drehte sich zu Rufus um, blinzelte einmal und verschwand dann unter einem Regal.
»Minster?«
Rufus ging in die Knie. Im selben Moment schob die Bisamratte mit der Schnauze ein Buch unter dem Regal hervor.
Es war aufgeschlagen und Rufus war sofort klar, dass Minster wollte, dass er es sich ansah.
Das Buch war sehr alt und hatte dicke, fast ledrige Seiten. Sie waren handbeschrieben mit einer blassbraunen Tinte. Aber Rufus konnte die Sprache nicht lesen. Mühsam buchstabierte er die fremden Worte halblaut vor sich hin.
»Was soll das denn sein?«, murmelte er. Irgendwas daran kam ihm bekannt vor.
Rufus schlug das Buch zu und sah nach dem Titel. Auf dem brüchigen Einband stand in derselben braunen Tinte »Lehren des Lebens, Schultafelabschriften und Ratschläge vom Hörensagen aus vier Jahrtausenden«.
Er rieb sich die Nase.
»Minster, was soll das bedeuten? Ich verstehe nicht, wohin mich das führen soll.« Er blätterte das Buch durch. Auf jeder Seite standen kurze Texte in derselben blassen Handschrift, aber alle anscheinend in verschiedenen Sprachen. Schließlich schlug Rufus wieder die Seite auf, die Minster ihm zuerst gezeigt hatte. Der Text trug weder eine Überschrift noch war eine Übersetzung vorhanden. Etwas jedoch war bemerkenswert: In der Ecke mit der Seitenzahl befand sich ein kleines Eselsohr. Irgendjemand hatte sich diese Seite markiert. Aber wozu?
Rufus blätterte weiter. Auf der letzten Seite entdeckte er ein Inhaltsverzeichnis und dieses war wie der Buchtitel auf Deutsch verfasst.
Gespannt las Rufus es durch, bis er zu der Seitenzahl kam, auf der der Text mit dem Eselsohr stand. Nun wusste er, um welche Sprache es sich hier handelte. Nachdenklich sah er Minster an, die immer noch vor ihm hockte und ihn mit ihren dunklen Knopfaugen anblickte.
»Brief des Vorzeichners Menena an seinen Sohn Pai-Iri aus der Zeit Ramses’ III.«, sagte Rufus. »Warum zeigst du mir das?«
Im nächsten Moment fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Natürlich kannte er diesen Text. Nur hatte er ihn noch nie gelesen. Und natürlich war er ursprünglich nicht in lateinischen Buchstaben verfasst worden. Was Rufus hier vor sich sah, war eine Lautschrift, die nur den Klang der Worte wiedergab. Den Klang der Worte, die ein ägyptischer Vater seinem Sohn gesagt hatte in der Zeit Ramses’ III.
Rufus keuchte auf.
»Danke, Minster!«, flüsterte er. »Das ist ja eine schöne Überraschung!«
Rasch lief Rufus zurück zu den anderen. Als er das Ende des Bücherganges erreichte, der in die Halle mit den Lesetischen führte, schob er sich vorsichtig um die Ecke und winkte No und Filine unauffällig zu. Auf keinen Fall durfte Coralia mitbekommen, was er entdeckt hatte.
No bemerkte ihn zuerst. Und als er sah, dass Rufus den Finger auf die Lippen legte, auf Filine deutete und ihm winkte, mit ihr zu ihm zu kommen, verstand No ihn sofort.
Wenig später knieten die drei Lehrlinge dicht gedrängt um das Buch, das Minster Rufus gezeigt hatte.
»Was ist denn das und was steht da?«, fragte No flüsternd.
Rufus gab das Buch Filine. »Es ist eine Lautschrift. Aber beim Lesen wirst du es bestimmt verstehen.«
»Wo hast du das her?«, wollte Filine wissen.
»Minster hat es mir gezeigt. Ihr werdet es gleich verstehen. Und ich glaube, dann geht es dir besser, Filine.«
Überrascht sah Filine ihn an. Dann begann sie zu lesen. Ihr Gesicht wurde weiß, aber unmittelbar darauf begannen ihre Augen zornig zu funkeln.
»Was ist denn?«, rief No. »Was steht da? Und wieso soll es Fili jetzt besser gehen? Sie sieht total wütend aus!«
»Weil hier genau die Worte stehen, die die Pharaonin zu mir gesagt hat«, flüsterte Filine. »Und weil das gar nicht sein kann.«
»Und was hat sie gesagt?«
Filine übersetzte den Text: »Dir wird der Sturm vorhergesagt, ehe er kommt, du mein Schiffer, der elend landen wird. Ich
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