Der frühe Vogel kann mich mal: Ein Lob der Langschläfer (German Edition)
»Guten Mooooooorgen!«
Eine vehemente Einleitung
»Dieses frühzeitige Aufstehen«, dachte er, »macht einen ganz blödsinnig. Der Mensch muss seinen Schlaf haben.«
Franz Kafka, Die Verwandlung
»Wie kann man denn jetzt noch im Bett liegen?«
Die Ratlosigkeit meiner Mutter ob meiner sonntäglichen Gewohnheit, wenigstens einmal in der Woche richtig ausschlafen zu wollen – also mindestens bis elf Uhr –, bewegte sich oft in liebevolle Ungastlichkeit hinein. »Guuten Mooorgen«, schmetterte sie in meine noch verstopften Ohren und verfolgte mich auf meinem beschwerlichen Weg zum Frühstückstisch mit verständnislosem Kopfschütteln. »Ich versteh einfach nicht, wie man jetzt noch im Bett liegen kann!«, wiederholte sie gerne.
»Ich lieg ja gar nicht mehr im Bett«, dachte ich dann kauend.
Ich dachte, weil ich noch nicht sprechen konnte. Es ging mir nicht gut. Ich litt. Am Morgen, an der Mutter, an dieser ungemütlichen Welt.
Ermahnungen und Unterweisungen trafen auf mein noch schläfriges Gemüt. Eine Leistungsschau der morgendlichen mütterlichen Emsigkeit halluzinierte mir vor Augen. Brötchen lagen da, die Sonntagszeitung, schon durchgeblättert, die Küche war bereits gewischt und das Geschirr vom Vortag abgewaschen und in die Schränke geräumt. In der Waschmaschine schäumten die Gardinen, ein Bügelbrett war aufgestellt, und der Braten schmorte in der Röhre. Zwischen all dem meine emsige, offenbar niemals schlafende Mutter mit Hunderten von Fragen: Ob ich wissen wolle, was Werner Höfer im Internationalen Frühschoppen zum Thema gemacht habe. »Hm«, dachte ich dumpf, und schon legte sie los, ohne meine Antwort abzuwarten. »Der Carl Gustaf will unsere Silvia heiraten.«
Ich war mir sicher, dass bei Höfer darüber kein Wort gefallen war, aber ich konnte mich nicht wehren. Mutters Redefluss flutete mein Hirn. Noch bevor meine Augen scharfe Bilder lieferten, war ich schon über Erdbeben und Butterpreise unterrichtet und davon, dass Morgenstund Gold im Mund habe.
Moment, dachte ich, das hat doch jetzt echt nichts mit Werner Höfer zu tun. Ich starrte taub auf die Butter. Mutter bügelte inzwischen – und redete weiter. Mir sollte es doch einmal besser gehen, und der Schlüssel dafür seien nun einmal Strebsamkeit, Fleiß und frühes Aufstehen. »Der frühe Vogel fängt den Wurm« – das war ihr Lieblingsmotto.
Ja, meine Mutter hatte es nicht leicht gehabt. Das erfuhr ich jeden Sonntagmorgen wider Willen. Der Krieg, die Kinderlandverschickung, der Kirchgang, die Arbeit … Ja, mir sollte es wirklich einmal besser gehen als ihr. Aber statt danach zu streben, würde ich den halben Tag verschlafen.
Noch bevor ich auf den Grund meiner Kakaotasse vorgestoßen war, wurden mir die Nachbarskinder als blühendes Beispiel vorgehalten. Die hatten zwar dreckige Fingernägel und platzierten gelegentlich tote Mäuse vor der Terrassentür, aber da sie das meist morgens taten, war dies meiner Mutter Beweis genug, dass sie wenigstens nicht bis in die Puppen schliefen.
Ich seufzte und schaltete auf Durchzug. Doch die Rechnung: »Eine Stunde länger schlafen = zehn Minuten Muttis Sermon anhören«, ging nicht auf, weder kurz- noch langfristig. Denn Muttis Gardinenpredigten haben ihre Langzeitwirkung nicht verfehlt. Sie haben bei mir nicht nur ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit hinterlassen, sondern auch den Weg für einen Komplex geebnet, unter dem ich seither mein ganzes Leben lang leide. Ich fühle mich schon schuldig, wenn ich noch nicht einmal die Augen geöffnet habe, und glaube, mich verteidigen zu müssen, weil ich vor zehn Uhr morgens nichts zur Steigerung des Bruttosozialproduktes beitragen kann. Ich bin ständig in Abwehrhaltung und habe eine Menge Rechtfertigungen auf Lager, mit denen ich mich gegen Anfeindungen der frühen Vögel zur Wehr setze. Ich führe dann meinen schwachen Kreislauf und mein Koffeindefizit ins Feld. Doch es hilft nichts: Die Frühaufsteher reklamieren die Welt für sich, und ich bin ihrem Spott aufs Gemeinste ausgesetzt.
Aber schon damals, als ich den Reden meiner Mutter mit schlaftrunkener Fassung lauschte, dachte ich: Meine Mutter und die Mehrheit mögen diesem Fundamentalismus folgen – doch meine Zeit wird noch kommen!
Aber das sollte noch dauern. Die Welt befand sich zwar damals schon im Wandel, Mond und Weltraum wurden erobert, Universitäten und Straßen gestürmt, die Röcke gekürzt und BHs verbrannt, meine Mutter aber blieb bei ihrem calvinistischen Anspruch, am
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