Die Knochenleserin
1
J emand beobachtete ihn.
Henry Kistle verbarg sich hinter dem Vorhang, als er hinuntersah. Auf der anderen Straßenseite, im Schatten der Ulme, stand ein hochgewachsener, dünner Mann, der in sein Handy sprach. Mit wem mochte er telefonieren? Wem war es diesmal gelungen, ihn ausfindig zu machen?
Nur nicht nervös werden, sagte er sich. Es spielte keine Rolle, ob sie ihn gefunden hatten. Er war schon mehrmals aufgespürt worden und hatte überlebt. Er musste nur die unmittelbare Bedrohung ausschalten und dann verschwinden. Sobald er in Sicherheit war, würde er allerdings dafür sorgen, dass diese Scheißkerle, die ihn in die Flucht getrieben hatten, ihre gerechte Strafe bekamen.
Jetzt stand diese unmittelbare Bedrohung da unten und wartete darauf, dass er einen Fehler machte. Ihn packte die Wut. Es war nicht fair. Er hatte ein Recht darauf, zu leben und jedes Vergnügen auszukosten, das sich ihm in dieser beschissenen Welt bot.
Wer war es diesmal? Ein Vater, ein Bruder, ein Cop? Wer?
Es spielte keine Rolle. Er würde es herausfinden.
Zuerst musste er seine Flucht vorbereiten. Ein paar Kleidungsstücke, seine Waffen und seine wertvolle Trophäenkiste zusammenpacken und im Wagen verstauen.
Er trat vom Fenster weg.
Zum Teufel mit dem Typen da unten. Es passte ihm überhaupt nicht, jetzt schon verschwinden zu müssen. Er hatte sein Vergnügen in dieser kleinen, verschlafenen Stadt noch nicht gehabt. Großstädte waren sicherer, aber diese Hinterwäldler herauszufordern reizte ihn besonders. Sie fühlten sich so sicher, dass er einfach in ihre Welt spazieren und sich nehmen konnte, was ihm beliebte.
O ja, es würde ein Andermal geben.
Eine andere Stadt.
Ein anderes Kind …
Ja, ein anderes Kind …
»Er ist heute Abend um sieben ins Haus gegangen und seitdem nicht wieder herausgekommen«, sagte Jedroth in sein Handy. »Das Licht ist immer noch an. Es ist erst zwanzig vor neun. Gestern Nacht hat er es um elf ausgemacht.«
»Und Sie sind sicher, dass er die Wohnung den ganzen Abend nicht verlassen hat, Sheriff?«, fragte Joe Quinn.
»Ich bin vielleicht kein Großstadtcop, aber ich weiß, was ich tue«, entgegnete Jedroth säuerlich. »So ein Schwein lass ich nicht entwischen.«
»Und wie sieht die Überwachung tagsüber aus?«
»Einer meiner Leute behält ihn im Auge. Aber ohne Beweise können wir nicht noch mehr Steuergelder verschwenden. Eine Nacht noch, mehr ist nicht drin.«
»Ich habe keine Beweise. Ich habe Kistle erst gestern Abend ausfindig gemacht. Ich brauche mehr Zeit.«
»Hören Sie, ich habe diese Überwachung nicht angeordnet, ohne mich vorher über Sie zu informieren. Ich kann mir vorstellen, warum Sie diesen Scheißkerl unbedingt in die Finger kriegen wollen. Ich spiele mit, weil Kistle womöglich eine Gefahr für meine Stadt darstellt. Aber ich brauche mehr als nur Ihren Verdacht.«
»Also gut. Ich werde morgen früh um acht dort sein und die Observierung übernehmen. Falls Sie noch mal Kontakt zu mir aufnehmen müssen, benutzen Sie nicht diese Nummer. Sie können mich unter der Handynummer erreichen, die ich Ihnen gegeben habe.«
»Je eher Sie kommen können, desto besser«, sagte der Sheriff. »Aber auf ein paar Stunden mehr oder weniger kommt’s nicht an. Kistle wird nirgendwo hingehen. Ich will ihm ein paar Fragen stellen. Vor drei Wochen ist hier ein kleiner Junge verschwunden. Als Bobby Joes Tennisschuhe und sein Hemd am Flussufer gefunden wurden, sind wir davon ausgegangen, dass er ertrunken ist.«
»Keine Leiche?«
»Noch nicht. Die Strömung ist sehr stark, und auf dem Grund stecken Äste fest, die der Fluss aus den Überschwemmungsgebieten im Norden mitbringt. Darin kann sich ein Schwimmer leicht verfangen.«
»Möglich.«
»Das dachte ich zumindest, bis Sie mich gestern angerufen und gebeten haben, Kistle überwachen zu lassen. Ich habe was gegen Kinderschänder. Und in meiner Stadt wissen wir, wie wir mit denen umzugehen haben.«
»Das glaube ich Ihnen aufs Wort. Rufen Sie mich an, wenn er sich rührt.«
»Sollte er sich an einem unserer Kinder vergreifen, wird er sich bald überhaupt nicht mehr rühren.« Jedroth schaltete das Handy aus, den Blick auf die Lichter im zweiten Stock des Hauses gegenüber gerichtet. Der Lichtschein des Fernsehers flackerte über die Wand. Was sich ein krankes Hirn wie Kistle wohl ansah? Alte Filme mit Shirley Temple? Oder vielleicht Cold Case Files oder CSI, um zu wissen, welche Fehler er vermeiden musste? Als junger Polizist in
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