Die Koenigin der Schattenstadt
deren Dächern bunte Blumen wuchsen, und breiten Plätzen, wo wilde Rosenbäume knurrten, wenn sie ihnen zu nahe kamen.
»Wir müssen uns beeilen!« Der Schatten hatte ihr den dunklen Kopf zugewendet. »Wir haben nicht mehr viel Zeit!«
Zwei Jahre lang hatte Catalina bei Arcadio Márquez in einer Windmühle mit schäbigen Flickenfetzenarmen gelebt, an einem weit entfernten schönen Ort, der einmal Barcelona gewesen war. Márquez hatte sie das Zeichnen gelehrt und vieles mehr. Er hatte ihr ein richtiges Zuhause gegeben, nachdem ihre Mutter sie dort zurückgelassen hatte, ohne ein einziges Wort der Erklärung.
Sie war ein gewöhnliches Mädchen gewesen, das Kartenmacherin hatte werden wollen, nicht mehr. Sie hatte die Geschichten des Windes genossen und ansonsten hatte sie gezeichnet. Und sie hatte all die Jahre nicht gewusst, was ihre Leidenschaft einst bedeuten würde.
Bis die finstersten Schatten nach Barcelona gekommen waren, die sich wie Harlekine hinter weißen Masken und schwarzen Roben verbargen und die in den Straßen ausschwärmten, um Catalina Soleado zu finden. Binnen weniger Augenblicke war ihr ganzes Leben so schnell ein anderes geworden, dass sie noch immer nicht ganz glauben konnte, dass all die Dinge, die sie erlebt hatte, auch wirklich geschehen waren.
Sie war aus der Windmühle geflohen und Jordi Marí über den Weg gelaufen, nun ja, förmlich in ihn hineingerast, mehr oder weniger. Gemeinsam waren sie weit durch den Himmel und über die See gereist. Sie hatten sich gefunden und es hatte weh, so wehgetan, als sie sich verloren hatten.
»Catalina, schneller!« Márquez flog voraus und auch der Wind – El Cuento – pfiff besorgt.
Catalina fühlte, wie die warme Brise ihr drängend über ihre Schulter wehte. Der Wind war schon von Kindesbeinen an Catalinas Freund und Begleiter. Erst vor Kurzem war er zu ihr zurückgekommen und hatte berichtet, was mit Jordi geschehen war, von all den Dingen, von denen sie nichts geahnt hatte, den Dingen, die zu Missverständnissen geführt hatten.
»Die Menschen wissen gar nicht, wie ihnen geschieht«, flüsterte er jetzt Catalina leise zu.
Sie lauschte. Von überall her tönten Schreie, überall waren die Menschen wie von Sinnen, weil die Glocken von Santo Amaro geschlagen hatten. Jeder, der in Lisboa lebte, wusste, dass Unheil nahte, wenn die Glocken schlugen, doch keiner ahnte, wie das Gesicht dieses Unheils wirklich aussah. »Es ist die Armada«, sagte El Cuento, »und sie ist so gewaltig, wie ich nie zuvor eine erblickt habe.«
Catalina beschleunigte ihre Schritte, um die dunkle Gestalt vor ihr nicht aus den Augen zu verlieren. Der Schatten des Kartenmachers war viel schneller, als es der Kartenmacher gewesen war. Er war nicht länger ein alter Mann, der ein wenig gebeugt ging, sondern ein altersloses Wesen aus flinker Finsternis.
»Wie weit ist es noch?«
Der Schatten hielt kurz inne. »Nicht mehr lange, Catalina. Nuria Niebla erwartet uns beim Chafariz – einem Brunnen in der alten Stadt, nahe der Beco do Mexicas.«
Catalinas Herz schlug schneller.
Nuria Niebla!
Wie hoffnungsvoll der Name doch klang.
Nur um die alte Frau zu finden, war Catalina überhaupt erst nach Lisboa gekommen. Denn Nuria Niebla, die alte Nebelhexe, war ihre Großmutter. Eine weise Frau war sie, eine, die lebendige Karten zu zeichnen vermochte. Mit ihrer Gabe konnte sie die Welt verändern, genau wie Catalina selbst. Und sie war jemand, der, so erhoffte es sich Catalina, sich ihrer annehmen würde. Nuria Niebla war alles, was dem Mädchen an Familie geblieben war.
Deswegen, nur deswegen, hatte sie dem Schatten des alten Márquez vertraut. Deswegen rannte sie jetzt hinter ihm durch die verschlungenen Gassen.
»Woher kennen Sie meine Großmutter?«, fragte sie Márquez und spürte, wie ihr die warme Abendluft in der Kehle brannte. Sie hatte keine Mühe, den Schatten des Kartenmachers so zu sehen, wie sie ihren Meister gesehen hatte. Er war da und er war wirklich. Er war ein Wesen mit einem eigenen Willen, das sogar mit der gleichen Stimme wie der alte Mann sprach.
»Nicht ich habe sie gefunden. Nuria Niebla war es, die mich gefunden hat.«
Catalina erinnerte sich an den Abend, an dem der große Harlekin in die Windmühle gekommen war. Er hatte Besitz von Arcadio Márquez ergriffen. Der Mann, bei dem sie sich so zu Hause gefühlt hatte, war im Bruchteil eines Augenblicks zu einer Gefahr geworden. Angegriffen hatte er sie, wie ein Raubtier, und nur mit Mühe war Catalina
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