Die Koenigin der Schattenstadt
und Gewächs und erreichten schließlich den Largo do Chafariz de Dentro.
Catalina spürte, wie ihr Herz schneller schlug, als sie aus dem Gassengewirr heraus auf den Platz einbogen. Hier würden sie endlich Nuria treffen und alles, davon war Catalina noch immer überzeugt, würde besser werden.
Sie schaute sich um, voller Erwartung.
Ein kleiner Platz in der Mitte der Alfama war es, mit bunten Pflastersteinen und einem runden Brunnen, der wie ein lebendiges Wesen aussah. Knorrige Pflanzen mit menschlichen Gliedmaßen und Gesichtern aus Dornen bedeckten die Brunnenöffnung und rankten sich an einem Stein aus dunkler Lava empor, der eine mächtige Statue trug.
Einer Harpyie gleich wachte die Gestalt in der Mitte des Brunnens, riesig und beherrschend. Weite Flügel spannten sich vor den Dunkelwolken und der stolze Drachenkopf blickte mit strengen Augen über den Platz, als würde er jeden Moment zum Leben erwachen.
All das sah Catalina.
Doch noch etwas sah sie.
Der Platz war menschenleer.
»Nuria müsste längst hier sein.« Die Stimme des Schattens war plötzlich voller Furcht und Sorge. Seine Unruhe, die Catalina vorher schon gespürt hatte, war nun allgegenwärtig.
Genauso wie Catalina schien er gar nicht mit der Möglichkeit gerechnet zu haben, dass Nuria nicht hier war.
»Wartet.« Catalina überquerte mit raschen Schritten den Platz und spähte in die dunklen Ecken und Winkel der Häuser. Vielleicht hatte das, was ihre Großmutter tat, einen Sinn? Was, wenn sie sichergehen wollte, dass Catalina nicht von den Schatten befallen war, ehe sie sich zeigte?
Aber egal, wohin sie blickte, nirgends fand sie einen Hinweis oder eine Spur von Nuria.
Catalina schluckte. Sie ballte die Fäuste. Nein, das durfte einfach nicht sein. Sie hatte den langen Weg zurückgelegt, nur um an diesem Brunnen zu stehen? »Was tun wir, wenn sie nicht kommt?«
»Wir müssen weiter.«
»Nein!« Catalinas Stimme war schneidend. »Wir warten auf sie. Sie wird kommen, ich weiß es.« Verzweifelt ging sie auf und ab. Nuria Niebla würde sie nicht einfach im Stich lassen. Sie war ihre Großmutter. Irgendjemand musste man doch trauen können.
Márquez seufzte gequält. »Ich kann dich nicht schützen, Catalina. Nicht vor den Flüsterern.« Er lauschte dem schabenden Geräusch der sich nähernden Finsterfäden. »Wenn Nuria nicht kommt, müssen wir fort. Es gibt keinen anderen Weg.«
»Aber wohin?«, fragte Catalina. Hastig blickte sie über ihre Schultern. Von ferne klang das Dröhnen der Gebläsemaschinen herüber, die die Armada antrieben. Vor ihrem inneren Auge erschienen die Harlekine. Bisher hatte sie noch keinen erblickt, nicht hier in Lisboa. Vermutlich warteten sie nur auf einen geeigneten Zeitpunkt, um in den Straßen und Gassen auszuschwärmen und sich auf die Suche nach ihr zu machen.
»Nicht mehr lange und Lisboa ist vollkommen eingeschlossen«, sagte sie. »Dann bleibt uns keine Möglichkeit mehr zur Flucht.«
Márquez schüttelte den Kopf. Seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Du irrst dich«, sagte er. »Ein Ausweg bleibt uns. Wenn etwas passiert, etwas, das wir nicht vorhergesehen haben, dann müssen wir in die Stadt aus Nacht und Nirgendwo gehen. Die Stadt der Schatten. Das ist es, was Nuria gesagt hat.«
Catalina starrte ihn an. Sie kannte die Geschichten und Gesänge von dieser Stadt, die irgendwo jenseits von Licht und Lisboa existieren sollte. Fado Mariza, die junge Hexe drüben in der Alfama, war es gewesen, die ihr davon erzählt hatte. Doch hatte Fado nicht auch gesagt, dass es nur Geschichten waren – nichts als Märchen?
»Aber –« Sie stockte.
Márquez spähte über die Schulter. »Du musst keine Angst haben, Catalina«, sagte er. »Die Schattenstadt ist anders, als du es dir jemals vorstellen könntest. Dort gibt es eine Windmühle, musst du wissen, und noch vieles mehr.«
Catalina sah ihn verwirrt an. »Unsere Windmühle?«
»Du wirst es verstehen, wenn wir dort sind.«
»Aber was ist mit Nuria?« Catalina sah sich verzweifelt um.
»Wir können nicht mehr lange warten, unmöglich.«
»Ich will nicht ohne sie gehen.«
»Du musst es tun!«
»Ich . . .« Sie verdrehte die Augen und trat wütend gegen einen Stein, der über den Platz flog.
In Márquez’ Schattenaugen schwamm Mitleid. Er öffnete den dunklen Mund zu einer Antwort, doch in dem Moment gewahrte Catalina einen schnellen Schatten über ihr.
Mit ausgebreiteten Schwingen stürzte er auf sie zu, packte sie mit scharfen Krallen
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