Die Koenigin der Schattenstadt
ganz leise ihrem Schatten zu. Sie sagte es trotzig, aber dabei war ihre Stimme rau und ein wenig zitternd wie der wehende Wind im Abendrot.
Schon früh war das Schattenmädchen Kassandras beste Freundin geworden. Wenn sie allein in ihren Gemächern gewesen war, dann hatte sie mit ihr gesprochen. Sonst war niemand bei ihr gewesen. Ihr hatte sie sich anvertraut, immer schon. Erst recht, als man ihr die Bücher genommen hatte.
Und dann hatte sie erfahren, wie sie ihr das Leben schenken konnte.
Die Maestra wäre nicht erfreut, wenn sie wüsste, dass ihre Schülerin sie heimlich bestohlen hatte. Nein, fuchsteufelswild wäre sie, ganz außer sich vor Wut. Doch Agata la Gataza hatte nicht die geringste Ahnung von dem, was Kassandra tun würde. Sie war in ihrer Kammer hoch oben im Nordturm, wo sie mit den Raben sprach, das tat sie immer, wenn sie allein war. Man munkelte, dass selbst ihre Kissen mit den weichen Federn wilder Raben gefüllt waren, Federn, die ihr die Kraft zu fliegen verliehen.
Manchmal fürchtete Kassandra sich vor der Maestra .
Der Abendwind blies ihr das dunkle Haar aus dem blassen Gesicht. Sie berührte ihren Schatten und der Entschluss war noch da, wie er es wohl immer schon gewesen war.
Sie wollte ihr das Leben geben, das sie verdiente.
Wenn das alte knisternde Pergament, das sie der Maestra gestohlen hatte, die Wahrheit schrieb, dann würde sie ihr immer zur Seite stehen.
Deshalb war sie jetzt hier.
»Wir gehören zusammen«, flüsterte sie so leise, als fürchte sie, dass die Maestra sie doch noch hörte. Die untergehende Sonne spiegelte sich auf der Silbermünze.
Sie durfte nicht mehr lange warten. In dem Pergament, das sie gestohlen hatte, war von der Sonne und den Sternen die Rede gewesen, von der Dämmerung eines sanften und sichelförmigen Mondes und wilden Winden, die einander kreuzten wie Pfade in der Nacht. Für jede Art von Magie gab es einen richtigen Moment und auf diesen einzigartigen Moment zu warten, erforderte Geduld.
Kassandra kniete sich auf den harten Felsen und roch die Wärme des Steins auf ihrer Haut. Sie berührte den Schatten vor sich mit der Fingerspitze, zärtlich und vertraut. Er war kühl wie das Wasser aus einem tiefen Brunnen.
Sie wusste, dass das, was sie vorhatte, schnell gehen musste.
Also nahm sie die Silbermünze und setzte dort an, wo ihre Haut den hellen Schatten berührte. Es gab nur diesen einen Weg, es zu tun, keinen anderen.
Als die Sonnenscheibe auf das Meer traf, da tat Kassandra den ersten tiefen Schnitt.
Sie spürte ihn.
Schrie auf.
Fast hätte sie die Münze fallen lassen.
Das scharfe Silber tat ihr so weh, als habe sie tief in ihre eigene Haut geschnitten. Erschrocken starrte sie auf die Stelle, doch da war kein Blut. Nichts. Nur der Schmerz und ein Stück ihres Schattens, der jetzt lose im Wind zappelte, obwohl sie ihren Arm ganz ruhig hielt.
Sie holte tief Luft, setzte erneut die Silbermünze an, schnitt langsam an der Trennlinie zwischen der blassen Haut und dem Schatten entlang und sah, wie sich die Dunkelheit von ihr löste.
Stück um Stück.
Atemzug um Atemzug.
Die Schmerzen trieben ihr die Tränen in die Augen, ließen sie aufkeuchen. Die Luft flimmerte ihr vor den Augen und das Salz, das sie weinte, rann ihr übers Gesicht und benetzte die Lippen. Leise, ganz leise wimmerte sie und schnitt doch weiter und weiter, führte mit zittriger Hand die Silbermünze an ihrer Haut entlang und hielt nicht inne, bis sie sich ihren Schatten vom Leib geschnitten hatte, so ganz und gar, als sei er schon immer ein Wesen mit einem Herz aus Nacht und Nirgendwo gewesen.
Schließlich glitt ihr die Silbermünze aus den Fingern. Sie fiel zu Boden und blieb auf dem Fels vor ihr liegen.
Eine Schattenhand hob sie auf.
Kassandra blickte auf. Sie sah ihrer Freundin in die Augen, die voll dunkelblauer Finsternis waren, so schön, wie sie es sich immer schon vorgestellt hatte.
»Wer bin ich?«, fragte das Schattenmädchen. Es streckte die Hand nach Kassandra aus und half ihr behutsam auf die Beine.
»Du bist mein Schatten«, sagte Kassandra. »Du bist wie ich.«
»Habe ich einen Namen?«
Kassandra berührte das Gesicht, das wie ihres war. »Den hast du«, gab sie zur Antwort und ihre Stimme zitterte dabei.
Dann sagte sie dem Schattenmädchen, welchen Namen es trug.
»Bist du meine Freundin?«, fragte Kassandra zögerlich.
»Ich bin, was ich bin«, sagte das Schattenmädchen und lächelte, wie die Nacht es tut, wenn die Wolken den Mond
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