Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan
dessen Bedeutung genau, und ohne zu ahnen, wieso er dies wisse. Dies sei eine der verblüffenden Folgen jener Verbindung zur Absicht. Und nachdem die Zauberer bewußt danach strebten, dieses Bindeglied zu verstehen und zu stärken, könne man sagen, daß sie alles intuitiv erahnen - untrüglich und zutreffend. Das Deuten von Omina sei eine Selbstverständlichkeit für die Zauberer - und Irrtümer unterliefen ihnen nur, wenn persönliche Gefühle dazwischenträten und die Verbindung des Zauberers zur Absicht überschatteten. Ansonsten sei ihr Wissen völlig zutreffend und zweckbestimmt.
Wir schwiegen eine Weile.
Ganz unvermittelt sagte er: »Ich werde dir eine Geschichte erzählen - über den Nagual Elias und die Offenbarung des Geistes. Der Geist offenbart sich einem Zauberer, besonders einem Nagual, an jeder Straßenecke. Das ist aber nicht die ganze Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist, daß der Geist sich jedermann mit der gleichen Intensität und Konsequenz offenbart; aber nur Zauberer, und vor allem Naguals, sind auf solche Offenbarungen vorbereitet.«
Don Juan begann mit seiner Geschichte. Eines Tages, sagte er, sei der Nagual Elias auf seinem Pferd in die Stadt geritten und habe eine Abkürzung über die Maisfelder genommen, als sein Pferd plötzlich scheute, erschreckt durch das flache, rasche Vorbeiflitzen eines Falken, der den Strohhut des Nagual nur um Zentimeter verfehlte. Sofort stieg der Nagual ab und schaute sich um. Er sah einen seltsamen jungen Mann zwischen den hohen, dürren Maisstauden. Der Mann trug einen teuren Anzug und schien hier fremd zu sein. Wohl war der Nagual Elias gewöhnt an den Anblick von Bauern und Grundbesitzern auf den Feldern, aber nie hatte er einen elegant gekleideten Städter über die Felder laufen sehen, anscheinend unbekümmert um seine teuren Schuhe und Kleider.
Der Nagual band sein Pferd fest und ging zu dem jungen Mann. Er erkannte den Flug des Falken, wie auch den Aufzug des Mannes, als deutliche Offenbarungen des Geistes, die er nicht ignorieren durfte. Ganz in die Nähe des jungen Mannes gelangt, sah er, was vor sich ging. Der Mann jagte einer Bäuerin nach, die ein paar Meter vor ihm rannte, ausweichend und mit ihm scherzend. Der Widerspruch war unübersehbar für den Nagual. Diese zwei Menschen, die miteinander über das Maisfeld tollten, gehörten nicht zusammen. Der Mann, dachte der Nagual, müsse ein Sohn des Grundherrn sein, und die Frau eine Dienstmagd im Hause. Es war ihm peinlich, die beiden zu beobachten, und so wollte er sich abwenden und gehen, als der Falke wieder über das Maisfeld flitzte und diesmal den Kopf des jungen Mannes streifte. Der Falke beunruhigte das Paar, und sie blieben stehen und schauten sich um, als erwarteten sie das nächste Heranflitzen des Vogels. Dem Nagual fiel auf, daß der Mann hager und stattlich war und daß er durchdringende, rastlose Augen hatte.
Dann wurde es den beiden langweilig, auf den Falken zu achten, und sie nahmen ihr Spiel wieder auf. Der Mann erwischte die Frau, er umarmte sie und legte sie sachte auf die Erde. Doch statt mit ihr schlafen zu wollen, was er - wie der Nagual vermutete - als nächstes tun würde, warf er seine Kleider ab und begann nackt vor der Frau hin und her zu stolzieren.
Sie schloß keineswegs schüchtern die Augen, noch kreischte sie vor Verlegenheit oder Furcht. Sie kicherte, fasziniert von dem nackten Mann, der sich wie ein Faun um die Frau bewegte, lachend und lüsterne Gebärden machend. Anscheinend überwältigt von diesem Anblick, stieß sie endlich einen wilden Schrei aus, sprang auf und warf sich dem jungen Mann in die Arme.
Der Nagual Elias, erzählte Don Juan, habe ihm gestanden, daß die Zeichen des Geistes bei diesem Anlaß höchst verwirrend gewesen seien. Es war eindeutig klar, daß der Mann verrückt war. Wie sonst wäre er, da die Bauern so eifersüchtig über ihren Frauen wachten, auf die Idee gekommen, eine junge Bäuerin am hellen Tag zu verführen, nur ein paar Meter entfernt von der Straße - und splitternackt.
Don Juan lachte und meinte, wenn jemand in jenen Zeiten sich auszog, um bei hellem Tageslicht und an einem solchen Ort Sex zu machen, dann bedeutete dies, daß er entweder verrückt oder vom Geist gesegnet sein mußte. Heutzutage, fügte er hinzu, mochte das Tun dieses Mannes vielleicht nicht bemerkenswert erscheinen. Doch damals, vor hundert Jahren, hatten die Leute unendlich mehr Hemmungen.
All dies überzeugte den Nagual Elias, kaum war er des Mannes
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