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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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sorglos, und sie ließen den Nagual näherkommen.
    Und dann kam der Moment, als der Schauspieler seine Kleider abwarf und sich dem Mädchen zeigte. Aber statt dahinzuschmelzen und ihm in die Arme zu fallen, wie seine anderen Eroberungen es getan hatten, begann das Mädchen ihn zu schlagen. Sie trat und prügelte erbarmungslos auf ihn ein und trampelte auf seine nackten Zehen, daß er aufschrie vor Schmerz.
    Der Nagual wußte, der Mann hatte der jungen Frau weder gedroht noch etwas zuleide getan. Er hatte sie mit keinem Finger berührt. Sie allein war es, die prügelte. Er versuchte lediglich, die Schläge abzuwehren, und hartnäckig - wenn auch ohne Begeisterung - versuchte er sie zu verlocken, indem er ihr seine Genitalien zeigte.
    Der Nagual war von Abscheu erfüllt, aber auch von Bewunderung. Er erkannte sogleich, daß der Schauspieler ein unverbesserlicher Wüstling sei, doch ebenso deutlich erkannte er, daß da etwas - wenn auch abstoßend - Einzigartiges um diesen Menschen war. Verblüfft konnte der Nagual sehen, daß das Bindeglied des Mannes zum Geist außerordentlich klar war.
    Zuletzt endeten die Attacken. Die Frau hörte auf, den Mann zu schlagen. Doch statt nun wegzulaufen, kapitulierte sie. Sie legte sich hin und sagte dem Schauspieler, er könne machen mit ihr, was er wolle.
    Der Mann war, wie der Nagual bemerkte, schon so erschöpft, daß er praktisch bewußtlos war. Aber trotz seiner Ermattung machte er sich sofort ans Werk und vollendete seine Verführung.
    Der Nagual lachte und staunte über die ungeheure Vitalität und Entschlossenheit dieses wertlosen Menschen, als die Frau aufschrie und der Schauspieler zu keuchen anfing. Der Nagual sah, wie der schwarze Schatten auf den Schauspieler niederstieß. Es ging wie ein Dolch, mit abgezirkelter Genauigkeit, in seine Lücke.
    An diesem Punkt machte Don Juan eine Abschweifung, um etwas zu erläutern, was er mir schon früher erklärt hatte: er hatte jene Lücke geschildert, eine Öffnung in unserer leuchtenden Schale, in Höhe des Nabels, wo die Macht des Todes unaufhörlich auftrifft. Wenn der Tod einen gesunden Menschen trifft, so erklärte Don Juan jetzt, ist es wie der stumpfe Schlag einer Kugel- oder wie ein Faustschlag. Aber wenn ein Mensch im Sterben liegt, führt der Tod einen messerscharfen Stoß gegen die Lücke.
    Darum wußte der Nagual Elias, daß der Schauspieler so gut wie tot war, und mit dem Tod endete auch des Naguals Interesse für die Pläne des Geistes. Da gab es keine Pläne mehr. Der Tod machte alles gleichgültig.
    Er erhob sich aus seinem Versteck und wollte schon gehen, als irgend etwas ihn zögern machte. Es war die Ruhe der jungen Frau. Gleichmütig zog sie die wenigen Kleidungsstücke an, die sie abgelegt hatte, und pfiff tonlos vor sich hin, als sei überhaupt nichts geschehen.
    Und dann sah der Nagual, daß der Körper des Mannes, da er sich entspannte, um die Präsenz des Todes hinzunehmen, einen schützenden Schleier gelüftet und seine wahre Natur offenbar hatte. Er war ein doppelter Mensch von unermeßlichen Gaben, und fähig, einen Schutz- oder Tarnschirm um sich zu schaffen - ein geborener Zauberer und ein perfekter Anwärter als Nagual-Schüler, wäre da nicht jener schwarze Schatten des Todes gewesen.
    Der Nagual war völlig erschüttert durch diesen Anblick. Jetzt verstand er die Pläne des Geistes, doch er konnte nicht begreifen, wie solch ein wertloser Mensch in das Schema der Zauberer paßte. Die Frau war inzwischen aufgestanden, und kaum einen Blick auf den Körper des Mannes werfend, der sich in Todeskrämpfen wand, ging sie fort.
    Nun sah der Nagual ihr Leuchten, und er erkannte, daß ihre außerordentliche Aggressivität die Folge eines gewaltigen Ansturms überschüssiger Energie war. Er war überzeugt, daß diese Energie, wenn es der Frau nicht gelang, sie vernünftig einzusetzen, sich schließlich gegen sie kehren würde; und es war nicht abzusehen, welches Unheil sie ihr bringen konnte.
    Als der Nagual beobachtete, mit welcher Gleichgültigkeit sie davonging, erkannte er, daß der Geist ihm noch einmal eine Offenbarung geschenkt hatte. Jetzt mußte er ruhig und unbekümmert bleiben. Er mußte handeln, als habe er nichts zu verlieren, er mußte einschreiten - koste es, was es wolle. In echter Nagual-Manier beschloß er, das Unmögliche zu wagen; und nur der Geist sollte Zeuge sein.
    Don Juan merkte an, daß es Vorfälle wie diesen brauchte, um zu prüfen, ob jemand ein wahrer Nagual sei oder ein Schwindler.

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