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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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ansichtig geworden, daß dieser sowohl verrückt als auch vom Geist gesegnet war. Er fürchtete, es könnten Bauern vorbeikommen, sich empören und den Mann auf der Stelle lynchen. Aber niemand kam. Dem Nagual schien es, als sei die Zeit stehengeblieben.
    Als der Mann fertig war mit dem Liebemachen, zog er sich an, holte ein Taschentuch hervor und polierte gründlich seine Schuhe; dann ging er - dem Mädchen schamlose Verheißungen machend - seiner Wege. Der Nagual Elias folgte ihm. Tatsächlich folgte er ihm mehrere Tage lang, und er fand heraus, daß der Mann Julian hieß und Schauspieler war.
    In der Folge sah der Nagual ihn oft genug auf der Bühne, um zu erkennen, daß der Schauspieler viel Charisma hatte. Die Zuschauer, besonders die Frauen, liebten ihn. Und er kannte keine Skrupel, seine charismatischen Gaben einzusetzen, um Verehrerinnen zu verführen. Während der Nagual dem Schauspieler folgte, wurde er mehr als einmal Zeuge seiner Verführungstechnik. Sie lief darauf hinaus, daß er sich seinen hingerissenen Verehrerinnen nackt zeigte, sobald er sie allein erwischte, und dann abwartete, bis die Frauen, überwältigt durch seine Schaustellung, sich ihm hingaben. Der Nagual mußte zugeben, daß der Schauspieler sehr erfolgreich war - außer in einer Hinsicht. Er war unheilbar krank. Der Nagual hatte den schwarzen Schatten des Todes gesehen, der ihm überallhin folgte.
    Don Juan erklärte jetzt noch einmal, was er mir schon vor Jahren gesagte hatte - daß unser Tod ein schwarzer Fleck unmittelbar hinter der linken Schulter sei. Die Zauberer wüßten, sagte er, wann ein Mensch dem Sterben nahe sei, weil sie diesen dunklen Fleck sehen könnten, der zu einem bewegten Schatten anwachse - genau von der Größe und Gestalt der Person, zu der er gehöre.
    Als der Nagual die drohende Gegenwart des Todes erkannte, war er wie betäubt vor Verwunderung. Warum, fragte er sich, wählte der Geist solch einen kranken Menschen aus? Er hatte gelernt, daß Ersatz, und nicht Erneuerung, das herrschende Prinzip der Natur sei. Und der Nagual bezweifelte, ob er die Fähigkeit oder die Kraft haben würde, diesen jungen Mann zu heiligen oder dem schwarzen Schatten seines Todes Widerstand zu leisten. Er bezweifelte sogar, ob er herausfinden könnte, warum der Geist ihn in ein Schauspiel so offenkundiger Vergeblichkeit einbezogen hatte.
    Der Nagual konnte nicht anders, als bei dem Schauspieler zu bleiben, ihm überall zu folgen und abzuwarten, ob sich Gelegenheit ergäbe, die Dinge tiefer zu sehen. Wie Don Juan erklärte, ist die erste Reaktion eines Nagual, wenn er den Offenbarungen des Geistes begegnet, die beteiligten Personen zu sehen. Der Nagual Elias hatte sich alle Mühe gegeben, den Mann zu sehen, sobald er seiner ansichtig wurde. Er hatte auch die Bäuerin gesehen, die ja Teil der Offenbarung des Geistes war, doch er hatte nichts gesehen, was, soweit er es beurteilen konnte, dies Schauspiel des Geistes gerechtfertigt hätte.
    Bei einer weiteren Verführung, deren Zeuge er wurde, gewann das Sehen des Nagual jedoch eine neue Tiefe. Die hingerissene Verehrerin des Schauspielers war diesmal die Tochter eines reichen Grundbesitzers. Und von Anfang an beherrschte sie völlig die Situation. Der Nagual hatte von ihrem Stelldichein erfahren, weil er hörte, wie sie den Schauspieler aufforderte, sich am nächsten Tag mit ihr zu treffen. Der Nagual verbarg sich im Morgengrau auf der anderen Straßenseite, als die junge Frau das Haus verließ; und statt die Frühmesse zu besuchen, ging sie zu dem Treffen mit dem Schauspieler. Der Schauspieler erwartete sie, und sie beschwatzte ihn, ihr auf die offenen Felder zu folgen. Er schien zu zögern, doch sie verhöhnte ihn und erlaubte ihm nicht, sich zurückzuziehen.
    Während der Nagual die beiden davonschleichen sah, hatte er die absolute Gewißheit, daß an diesem Tage etwas geschehen würde, was keiner der Mitwirkenden vorhergesehen hatte. Er sah, daß der schwarze Schatten des Schauspielers fast auf das Doppelte seiner Größe gewachsen war. Aus dem geheimnisvoll harten Blick in den Augen der jungen Frau schloß der Nagual, daß auch sie den schwarzen Schatten des Todes intuitiv gespürt hatte. Der Schauspieler schien gedankenverloren. Er lachte nicht, wie er es bei anderen Gelegenheiten getan hatte.
    Sie gingen ein Stück weit. Irgendwann entdeckten sie den Nagual, der ihnen folgte; er aber tat so, als arbeite er auf dem Feld, als sei er ein Bauer aus dieser Gegend. Das machte die beiden

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