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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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gewiß, wie ich hier mit dir spreche.« »Wie meinst du das? Wieso kann der Jaguar unsere Gedanken lesen?« fragte ich.
    »Ich meine es nicht symbolisch«, sagte er. »Ich meine es, wie ich es sage. Große Tiere, wie dieses, können Gedanken lesen. Ich meine nicht, daß sie die Dinge erraten. Sie wissen sie unmittelbar.«
    »Was sollen wir also tun?« fragte ich beunruhigt.
    »Wir sollten uns weniger rational verhalten. Wir sollten uns einen Vorteil verschaffen, indem wir es dem Jaguar unmöglich machen, unsere Gedanken zu lesen.«
    »Wie sollte ein unvernünftigeres Verhalten uns helfen?« fragte ich.
    »Die Vernunft befiehlt uns, Entscheidungen zu treffen, die unserem Verstand als vernünftig erscheinen. Deine Vernunft befahl dir zum Beispiel, du solltest möglichst schnell und in der Direktlinie weglaufen. Aber deine Vernunft hat nicht berücksichtigt, daß wir sechs Meilen bis zu deinem Auto laufen müßten, um uns in Sicherheit zu bringen. Bis dahin würde der Jaguar uns einholen. Er würde uns den Weg abschneiden und irgendwo auf uns warten, um uns anzuspringen.
    Eine bessere, aber weniger vernünftige Entscheidung ist, im Zickzack durch das Gelände zu laufen.«
    »Woher weißt du, daß sie besser ist, Don Juan?« fragte ich.
    »Weil mein Bindeglied zum Geist klar ist«, antwortete er. »Das heißt, mein Montagepunkt befindet sich am Platz des stillen Wissens. Von dort erkenne ich, daß dieser Jaguar hungrig ist - aber er hat noch nie Menschen getötet. Und unser Verhalten verwirrt ihn. Wenn wir im Zickzack laufen, fällt es dem Jaguar schwer, unsere Schritte vorherzusehen.«
    »Gibt es denn keine andere Alternative, als im Zickzack durch die Gegend zu laufen?« fragte ich.
    »Es gibt sonst nur noch vernünftige Alternativen«, sagte er. »Und wir haben nicht die Mittel, um unsere vernünftigen Entscheidungen abzusichern. Wir könnten uns zum Beispiel auf eine Hügelkuppe flüchten - aber wir brauchten ein Gewehr, um uns dort zu verteidigen.
    Also müssen wir uns auf die Entscheidungen des Jaguars einstellen. Diese Entscheidungen sind durch das stille Wissen diktiert. Und wir müssen tun, was das stille Wissen uns vorschreibt - ganz gleich, wie unvernünftig es uns erscheinen mag.«
    Er begann weiter im Zickzack zu laufen. Ich folgte ihm, aber ich hatte kein Vertrauen, daß diese Gangart uns helfen würde. Erst jetzt geriet ich - verspätet - in Panik. Der Gedanke an die dunkel aufragende Silhouette der Raubkatze verfolgte mich.
    Der Chaparral bestand aus hohen, dürren Büschen, die in Abständen von etwa anderthalb Metern wuchsen. Die geringen Niederschläge im Wüstenhochland erlaubten kein Wachstum von dichtbelaubten Pflanzen, und auch kein dichteres Unterholz. Trotzdem erweckte der Chaparral den optischen Eindruck einer undurchdringlichen Vegetation.
    Don Juan bewegte sich mit erstaunlicher Gewandtheit vorwärts. Ich folgte ihm, so gut ich konnte. Er empfahl mir, ich sollte auf meine Schritte achten und weniger Krach machen. Die Geräusche der knackenden Zweige würden uns verraten.
    Ich bemühte mich, in Don Juans Fußspuren zu treten, um keine dürren Zweige zu knicken. So liefen wir vielleicht hundert Meter im Zickzack durch den Buschwald, bis ich- kaum zehn Meter hinter mir - die riesige schwarze Silhouette des Jaguars entdeckte. Ich stieß einen schrillen Schrei aus. Ohne im Laufen innezuhalten, drehte sich Don Juan um - rechtzeitig, um die Raubkatze verschwinden zu sehen. Wieder stieß Don Juan jenen gellenden Pfiff aus und ahmte händeklatschend das gedämpfte Knallen von Gewehrschüssen nach.
    Leise erzählte mir Don Juan, daß Katzen nicht gerne bergan laufen. Darum sollten wir möglichst rasch die breite, steile Schlucht überwinden, die sich ein paar Schritte nach rechts auftat. Auf sein Zeichen rannten wir los und hetzten polternd durch den Buschwald. Wir rutschten die Steilflanke der Schlucht hinab, erreichten den Boden und hasteten die andere Böschung wieder hinauf. Von dort oben hatten wir gute Sicht auf die Böschung, den Boden der Schlucht und die Ebene, auf der wir uns vorhin befunden hatten. Flüsternd erzählte mir Don Juan, daß der Jaguar unserem Geruch folgen würde. Wenn wir Glück hätten, könnten wir ihn auf unserer Fährte über den Boden der Schlucht laufen sehen.
    Ich starrte in die Schlucht hinab und wartete ängstlich auf die Bestie. Aber ich sah sie nicht. Ich glaubte schon, daß der Jaguar sich getrollt hatte - als ich sein schreckliches Knurren im Chaparral hinter uns

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