Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan
Er sagte, Erklärungen seien niemals umsonst, denn sie prägten sich unserem Gedächtnis ein. Früher oder später kämen sie uns zustatten auf unserem Weg zum stillen Wissen.
Ich bat ihn, mir mehr von dem stillen Wissen zu erzählen. Er antwortete, das stille Wissen sei eine bestimmte Position des Montagepunkts, die in früheren Zeiten die normale Position des Menschen gewesen war. Aus irgendwelchen Gründen habe sich der Montagepunkt des Menschen jedoch aus dieser Position fortbewegt - in eine neue Position, genannt »Vernunft«.
Doch nicht jeder Mensch sei ein Vertreter dieser neuen Position, sagte Don Juan. Bei den meisten befinde sich der Montagepunkt nicht direkt am Platz der Vernunft, sondern unmittelbar daneben. Ähnlich habe es sich dereinst auch mit dem stillen Wissen verhalten: Nicht bei allen Menschen hatte sich der Montagepunkt direkt an dieser Stelle befunden.
Eine andere Position des Montagepunktes, genannt »Platz ohne Erbarmen«, so sagte er, sei der Vorläufer des stillen Wissens. Und wieder eine andere Position des Montagepunktes, genannt »Platz des Interesses«, sei der Vorläufer der Vernunft.
Ich fand diese geheimnisvollen Bemerkungen gar nicht so unverständlich. Sie erklärten sich geradezu von selbst. Ich verstand alles, was er sagte, während ich jenen Schlag auf den Rücken erwartete, mit dem er mich immer in einen Zustand gesteigerter Bewußtheit versetzte. Doch der Schlag blieb aus, und ich verstand noch immer, was er sagte - ohne mir wirklich bewußt zu sein, daß ich etwas verstand. Das Gefühl der Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, wie ich es in meinem normalen Bewußtseinszustand kannte, blieb bestehen. Ich zweifelte nicht an meiner Fähigkeit, alles zu begreifen.
Don Juan musterte mich aufmerksam. Er empfahl mir, mich auf einen abgerundeten Felsblock zu legen, bäuchlings und Arme und Beine gespreizt wie ein Frosch.
So lag ich etwa zehn Minuten, entspannt und beinah schlafend, als ich durch ein leises Knurren und Zischen aufgeschreckt wurde. Ich hob den Kopf - und meine Haare standen zu Berge. Kaum drei Meter von mir entfernt, direkt über der Stelle, wo Don Juan saß, kauerte auf einem Felsen ein großer schwarzer Jaguar. Er fletschte die Zähne und starrte mich an. Er schien bereit, mich anzufallen.
»Bewege dich nicht!« befahl Don Juan flüsternd. »Und sieh ihm nicht in die Augen. Starre auf seine Nase und zwinkere nicht. Dein Leben ist abhängig von deinem starren Blick.«
Ich tat, wie er mir befohlen. Der Jaguar und ich starrten einander an, bis Don Juan die Patt-Situation löste, indem er seinen Hut wie eine Frisbee-Scheibe nach dem Kopf des Jaguars warf. Der Jaguar sprang ausweichend zurück, und Don Juan stieß daraufhin einen gedehnten, gellenden Pfiff aus. Dann brüllte er laut und klatschte etliche Male in die Hände. Es klang wie gedämpftes Gewehrfeuer.
Don Juan bedeutete mir durch Zeichen, von meinem Felsblock zu steigen und zu ihm zu kommen. Jetzt brüllten wir beide und klatschten in die Hände, bis Don Juan überzeugt war, daß wir den Jaguar verscheucht hatten.
Ich zitterte am ganzen Leib, aber ich hatte keine Angst. Am meisten habe mich nicht das Knurren der Katze oder ihr starrer Blick erschreckt, sagte ich zu Don Juan, sondern die Tatsache, daß dieser Jaguar mich angestarrt hatte, lange bevor ich ihn hörte und aufblickte. Don Juan sagte kein Wort über den Vorfall. Er schien in Gedanken versunken. Ich wollte ihn fragen, ob er den Jaguar vor mir gesehen hätte, doch er machte eine ungeduldige Handbewegung und gebot mir Schweigen. Er schien beunruhigt oder sogar verwirrt.
Nach einer Weile bedeutete mir Don Juan, weiterzugehen. Er ging voraus. Rasch, und im Zickzack durch den Buschwald laufend, entfernten wir uns von den Felsblöcken.
Nach einer halben Stunde erreichten wir eine Lichtung im Chaparral, wo wir rasteten. Wir hatten bisher kein Wort gesprochen, und ich war neugierig, was Don Juan denken mochte.
»Warum laufen wir auf so verschlungenen Wegen durch das Gelände?« fragte ich. »Wäre es nicht besser, in der Direktlinie zu verschwinden - und zwar schnell?«
»Nein«, sagte er nachdrücklich. »Das wäre gar nicht gut. Dies ist ein Jaguar-Männchen. Es ist hungrig, und es verfolgt uns.« »Grund genug, rasch von hier zu verschwinden«, beharrte ich. »Das ist nicht leicht«, sagte er. »Dieser Jaguar ist nicht durch die Vernunft gehemmt. Er weiß genau, was er tun muß, um uns zu stellen. Und er kann unsere Gedanken lesen - so
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