Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan
hörte. Schaudernd erkannte ich, daß Don Juan recht gehabt hatte. Der Jaguar hatte anscheinend unsere Gedanken gelesen und vor uns die Schlucht durchquert.
Wortlos rannte Don Juan weiter. Ich folgte ihm, und wieder liefen wir eine Weile im Zickzack durch die Gegend. Als wir endlich haltmachten, war ich ganz außer Atem.
Die Angst vor dem Jaguar, der uns verfolgte, hatte mich nicht daran gehindert, Don Juans große körperliche Geschicklichkeit zu bewundern. Er war gelaufen wie ein junger Mann. Er erinnerte mich an jemanden aus meiner Kindheit, der mir sehr imponiert hatte, weil er so schnell laufen konnte. Ich wollte Don Juan diese Geschichte erzählen, doch er gebot mir zu schweigen. Wir lauschten angespannt.
Ich hörte ein leises Rascheln, und dann zeigte sich für einen Moment die schwarze Silhouette des Jaguars - fünfzig Meter vor uns im Chaparral.
Don Juan zuckte die Schultern und deutete nach dem Jaguar. »Anscheinend läßt er sich nicht abschütteln«, sagte Don Juan resigniert. »Komm, gehen wir langsam weiter, als schlenderten wir durch einen Park. Und du erzähle mir diese Geschichte aus deiner Kindheit. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, und auch die richtige Situation. Wir werden von einem hungrigen Jaguar verfolgt, und du schwelgst in Jugenderinnerungen: das perfekte Nicht-Tun, um sich von einem Jaguar hetzen zu lassen.«
Don Juan lachte. Und als ich einwandte, mir sei die Lust vergangen, meine Geschichte zu erzählen, da krümmte er sich geradezu vor Lachen.
»Jetzt bestrafst du mich, weil ich vorhin nicht zuhören wollte, nicht wahr?« fragte er.
Ich versuchte mich zu rechtfertigen. Sein Vorwurf sei doch absurd, sagte ich. Ich hätte wirklich den roten Faden meiner Geschichte verloren.
»Ein Zauberer, der seine Selbstüberschätzung abgelegt hat, kümmert sich nicht darum, ob er den roten Faden einer Geschichte verliert«, sagte Don Juan, und seine Augen funkelten boshaft. »Nachdem auch du keine Selbstüberschätzung mehr hast, solltest du mir gerade jetzt die Geschichte erzählen. Erzähle sie dem Geist, dem Jaguar und mir. Tu so, als hättest du den roten Faden nicht verloren.«
Ich wollte ihm sagen, daß mir die Lust vergangen sei, die Geschichte zu erzählen. Sie sei gar zu töricht - und die Situation zu bedrückend. Ich wollte den richtigen Zeitpunkt für meine Erzählung wählen, wie er es bei seinen Geschichten tat.
Don Juan antwortete mir, bevor ich ein Wort gesagt hatte. »Wir beide können Gedanken lesen, dieser Jaguar und ich«, sagte er grinsend. »Wenn ich für meine Zauberei-Geschichten die richtige Situation und den richtigen Zeitpunkt wähle, so deshalb, weil sie der Unterweisung dienen. Ich möchte damit die größte Wirkung erzielen.«
Auf sein Zeichen gingen wir weiter, langsam und nebeneinander. Ich bewunderte seine Ausdauer im Laufen und gestand, daß auch ein bißchen Selbstüberschätzung bei meiner Bewunderung mitschwinge, weil ich mich selbst für einen guten Läufer hielt. Und dann erzählte ich Don Juan jene Geschichte aus meiner Kindheit, an die ich mich erinnert hatte, als ich ihn so gewandt laufen sah. Als kleiner Junge, erzählte ich, spielte ich Fußball und konnte sehr schnell laufen. Ich war so geschickt und flink, daß ich mir straflos jeden Streich leisten konnte, weil ich meine Verfolger immer abschüttelte - vor allem die alten Polizisten, die auf den Straßen meiner Heimatstadt ihre Runden drehten. Hatte ich etwa eine Straßenlaterne eingeworfen, so brauchte ich mich nur laufend in Sicherheit zu bringen.
Eines Tages aber waren die alten Polizisten - ohne daß ich es wußte - durch eine neue Polizeistaffel mit militärischer Ausbildung abgelöst worden. Das Verhängnis kam, als ich ein Schaufenster einwarf und losrannte - im Vertrauen, mich durch meine Schnelligkeit zu retten. Ein junger Polizist lief hinter mir her. Ich rannte, wie ich noch nie im Leben gerannt war, aber es war vergeblich. Der Polizist, ein Mittelstürmer in der Polizei-Mannschaft, war schneller und ausdauernder als ich mit meinen zehn Jahren. Er holte mich ein und führte mich mit leichten Stößen und Tritten vor das zersplitterte Schaufenster. Er tat mir nicht weh - vielmehr war es, als trainierten wir zusammen auf dem Fußballplatz. Ich hatte furchtbare Angst, doch meine Niederlage wurde aufgewogen durch die Bewunderung eines Zehnjährigen für die Geschicklichkeit und Begabung dieses Fußballers.
Ein ähnliches Gefühl, so sagte ich, hätte ich vorhin für Don Juan empfunden.
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