Die Krieger 1 - Das Erbe der Magier
Mein Name lautet Corenn. Die Zeit lastet noch nicht so schwer auf meinen Schultern, dass ich mich als alte Frau bezeichnen würde, doch die Wahrheitsliebe gebietet mir, meine zweiundsechzig Lenze einzugestehen.
Seit fast zwei Jahrzehnten bin ich im Ständigen Rat des Matriarchats von Raul mit der Außenpolitik betraut. Mein Amt stellt mich häufig vor schwierige Entscheidungen. Obwohl die bekannte Welt einigermaßen in Frieden lebt, verfolgt jedes Königreich andere Interessen. Die Kunst der Diplomatie ist der einzige Weg, die guten Beziehungen zwischen den Ländern aufrechtzuerhalten. Doch wer nehmen will, der muss auch geben, und so ist Kaul manchmal zu Opfern gezwungen, um seine Unabhängigkeit zu wahren.
Diese Opfer können auch Menschenleben sein. Immer wieder sterben Agentinnen, die jenseits unserer Grenzen tätig sind – zumeist als Botschafterinnen, bisweilen aber auch als Spioninnen. Obwohl sie wissen, welche Gefahren sie auf sich nehmen, ist der Tod dieser Freiwilligen stets eine Tragödie, für die allein ich verantwortlich bin. Meine Entscheidungen führten dazu, dass unsere Diplomatinnen von jezebischen Stammesanführern enthauptet oder von jerusnischen Rebellen an einen Baum geknüpft wurden. Auf meine Bitte hin versuchte eine Gesandtschaft, beim neuen König der Thalitten vorzusprechen, und kehrte von dieser Mission nie wieder zurück. Solcherart sind die Beschlüsse, die ich Dekade um Dekade treffen muss.
Doch diese Bürde ist nichts im Vergleich zu dem grausamen Streich, den das Schicksal einer Handvoll Männern und
Frauen gespielt hat. Einer Gemeinschaft, zu der auch ich gehöre.
Alles begann vor einhunderteinundvierzig Jahren, als ein Fremder namens Nol einige Gesandte aus verschiedenen Ländern der bekannten Welt auf einem Fleckchen Land nahe der lorelischen Küste versammelte: der Insel Ji. Zu den Weisen, die dort zusammenkamen, zählten auch meine Vorfahren. Sie alle verschwanden auf rätselhafte Weise und kehrten erst zwei Monde später zurück, schwer gezeichnet von einem Abenteuer, dessen Geheimnis sie mit ins Grab nehmen würden. Nol wurde nie wieder gesehen, und die Geschichte geriet bald in Vergessenheit.
Vier Generationen später begannen die fanatischen Priester Zuias, die Nachkommen der Gesandten zu ermorden. Nur acht von uns entkamen der tödlichen Hetzjagd der Züu: ich selbst, meine Nichte Leti, Bowbaq vom Vogelklan und seine beiden Kinder, Reyan von Kercyan, Maz Lana und nicht zu vergessen der Mann, mit dem ich später den Bund schloss, der tapfere Grigan aus Griteh. Auch ein Außenstehender stieß zu uns: Yan, ein treuer Freund Letis, der ihr bis ans Ende der Welt folgte.
Nachdem bald nicht nur die Mörder im roten Gewand hinter uns her waren, sondern auch die Banditen der Großen Gilde, flohen wir von Land zu Land, um dem Tod zu entrinnen und dem Geheimnis unserer Vorfahren auf die Spur zu kommen. Wie sich herausstellte, war das die schwierigste Aufgabe, die ich je zu meistern hatte. Doch wir fanden die Antworten, die wir suchten, mag es nun Glück, eine Laune des Schicksals oder höherer Wille gewesen sein.
Nol ist ein Unsterblicher: Hüter des Jal'dara, eines wundersamen Tals, in dem die künftigen Götter der Menschheit
heranwachsen. An diesen Ort hatte er unsere Ahnen geführt, indem er ihnen die verborgene magische Pforte von Ji öffnete - so wie er es immer dann tut, wenn zehn Menschengenerationen verstrichen sind.
Das Jal'dara ist die Kinderstube der Götter. Der Glaube der Menschen lässt die Unsterblichen dort langsam heranreifen, bis sie genug gelernt haben und den Gärten des Jal für immer den Rücken kehren. Dann lassen sie sich in ihrem neuen Reich nieder, um dort für alle Ewigkeit zu herrschen.
Die Gesandten der Sterblichen müssen nach jeder Reise entscheiden, wie sie mit dem Geheimnis umgehen, in das sie Nol eingeweiht hat. Sollen sie die Menschen warnen? Sich in Schweigen hüllen? Die Folgen einer solchen Offenbarung sind unabsehbar. Bislang entschieden alle Weisen, dass die Welt noch nicht bereit für dieses Wissen war. Aber ihr Leben war von Grund auf verändert. Manche wandten sich der Religion zu, andere zogen sich in die Einsamkeit zurück – und einige wenige verloren den Verstand.
Dazu gehörte auch Saat, ein Mann, der vor zwei Jahrhunderten geboren wurde und sich als größter Widersacher der Erben und ärgster Feind der Menschen erweisen sollte.
Usul erbebt in seiner Höhle. Nie zuvor hat er solche Verwirrung empfunden. Es ist wie ein
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