Die Kultur der Reparatur (German Edition)
Erscheinung der körperlichen Dinge in ihrem Zusammenhange, die Natur als durch innere Kräfte bewegtes und belebtes Ganzes“. Die Betrachtung eines Weltganzen war eine großartige Idee, geschrieben während einer Lebensspanne, die fast zwanzig Jahre umfasste – während derer Humboldt seine vielen Forschungsreisen unternahm und sich mit anderen Gelehrten austauschte. Der Kosmos umfasste Mineralogie, Geologie, Pflanzen-, Tier- und Himmelskunde.
Die Natur als Ganzes über die Grenzen der Fachdisziplinen zu begreifen, ist ein tiefmoderner Gedanke, der heute zum Beispiel in der Chaostheorie, Stichwort „Schmetterlingseffekt“, eine entscheidende Rolle spielt – der amerikanische Meteorologe Edward N. Lorenz hatte den Begriff 1972 geprägt, in einem Vortrag, der den Titel „Verursacht der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas?“ trug.
Alles hat Auswirkungen auf alles; um Zusammenhänge zu begreifen, bedarf es einer Gesamtschau der Dinge. Humboldt hatte das auf seine Weise längst erkannt. Die Chaostheorie lehrt uns, dass auch bei deterministischen Vorgängen nur kleine Abweichungen in den Ausgangsbedingungen ganz andere Ergebnisse hervorbringen können. So kann der Flügelschlag des Schmetterlings als kleine Abweichung zu Beginn eines Wetterszenarios eine ganz andere Entwicklung des weiteren Wetterverlaufs bewirken. Mit anderen Worten: Es genügt nie, nur eine Seite zu betrachten, unsagbar viele Einflüsse müssen berücksichtigt werden– wegen der Komplexität der natürlichen Abläufe und der Empfindlichkeit bezüglich kleinster Details, die am Ende den Ausgang bestimmen.
Ohne allzu kulturpessimistisch klingen zu wollen: Das Ganze überblickt heute kaum jemand. Um beim Wetter zu bleiben: Wie schwer wir uns damit tun, den Klimawandel und seine genauen Ursachen zu verstehen, ist nur ein Beispiel dafür. Spezialisten haben unterschiedliche Ansichten, Sonnenflecken werden gegen CO 2 -Kurven ausgespielt. Es bräuchte Gelehrte, die fächer- und disziplinübergreifend die wesentlichen Zusammenhänge erkennen. Vielleicht wäre das Studium zum Universalgelehrten, wie es ihn früher gab, eine lohnenswerte Einrichtung an den Universitäten. Um nicht missverstanden zu werden: Fortschritt in den Wissenschaften hängt natürlich vom Fortschritt in den Details ab, da gilt es zum Beispiel in der Doktorarbeit tiefe Bretter zu bohren. Aber in einer späteren Lebensphase könnte dann ein studium universalis , das auf einer starken naturwissenschaftlichen Ausbildung basiert, die geisteswissenschaftliche Durchdringung einbeziehen.
Die Kultur der Reparatur ist ein Paradebeispiel für ganzheitliches Denken, weil sie fachdisziplinspezifischen Wissens und technischer Fähigkeiten bedarf, die aus ganz unterschiedlichen Gebieten kommen müssen. Und weil sie mit der Verantwortung für die nachfolgenden Generationen einem übergeordneten Ganzen verpflichtet ist. Um die Grundlagen für eine solche Kultur zu schaffen, müssen Wissenschaft und Technik besser erklärt, aus den Labors und den Spezialistenzirkeln in die Gesellschaft hineingetragen werden. Nur so entsteht ein echter Dialog über Chancen und Risiken von Technik, der unserer Gesellschaft den Weg in die Zukunft ebnen kann. An meinem Lehrstuhl, eingebettet in das Zentrum für Wissenschaft in der Gesellschaft an der TU München, wird den Studenten vermittelt, wie sie so über ihr physikalisches Fachgebiet sprechen, dass sie nicht nur Fachkollegen, sondern alle interessierten Menschen erreichen. Sie lernen, dass Fortschritt nicht nur im Labor stattfindet, sondern immer auch inmitten der Gesellschaft, die sich mit der Technik auseinandersetzen können muss.
Ein Ort, der Wissenschaft und „Normalbürger“ zusammenbringt, ist auch das gläserne Wissenschaftlerlabor des Deutschen Museums, wo man tagtäglich praktisch arbeitenden Wissenschaftlern über die Schulter blicken, mit ihnen in einen Dialog treten und zum Beispiel über Chancen und Risiken von Technologien wie der Nanotechnologie reden kann. Dabei wird der Besucher, der sonst nur passiv von technischen Entwicklungen betroffen ist, gewissermaßen zum Beteiligten – auch weil er in begleitenden Bürgerdialogen um sein Votum für die zukünftige Richtung von Forschung und Entwicklung und um seine Meinung und seinen Rat zu Anwendungsfragen gebeten wird. Gleichzeitig aber lernen Wissenschaftler, sich zu öffnen, sich auf einen gesellschaftlichen Dialog einzulassen, ohne den die Einführung neuer
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