Geliebter Feind (German Edition)
Aylesbury, April 1873
Justin Iddlesleigh, jüngster Spross einer schwerreichen Familie, war auf dem Weg zum Landsitz seines Vaters. Mehrere Jahre hatte Jus am Pembroke College in Oxford Medizin studiert und nun endlich seinen Abschluss in der Tasche – sehr zum Unwillen seines alten Herrn. Der hätte es lieber gesehen, wenn sein Sohn endlich eine Dame der guten Gesellschaft geheiratet hätte.
Gemütlich trabte Jus auf seinem Hengst die staubige Straße entlang, als erste Regentropfen Pferd und Reiter benetzten. Justin taxierte misstrauisch den wolkenverhangenen Himmel, bevor er das Tier in eine schnellere Gangart brachte. Sein Zuhause, das er in den letzten Jahren kaum zu Gesicht bekommen hatte, lag noch gut eine Stunde entfernt. Niemand wusste, dass er heute schon heimkam, und Jus verspürte auch nicht den Wunsch, seiner Familie so schnell entgegenzutreten. Die Stimmung dort war immer zum Zerreißen gespannt.
Dennoch zog er an den Zügeln um zu wenden und galoppierte durch ein brach liegendes Feld auf den angrenzenden Wald zu. Wie gut er sich noch an die geheime Abkürzung erinnern konnte, die er als Junge immer benutzt hatte! Doch er musste auf der Hut sein, denn die Grenze des Reece-Territoriums verlief durch den Wald. Aber da er keine Lust verspürte, bald bis auf die Knochen durchgeweicht zu sein, nahm er das Risiko, womöglich erschossen zu werden, in Kauf. Vielleicht würde sich keiner der Reece-Brüder mehr an ihn erinnern können. Justin war ihnen das letzte Mal vor zehn Jahren begegnet, als er Claire an den Busen gelangt hatte. Hätte ihm einer ihrer Brüder nicht einen Stock über den Schädel gezogen, wäre es sicher zu mehr gekommen.
Justin erinnerte sich daran, als wäre es gestern gewesen: »So halt doch endlich still!«, hatte er gesagt, als er Claire ins Gras zurückgedrückt hatte.
»Aber du kitzelst mich, Jus!« Das Mädchen griff kichernd nach dem Buch, das aufgeschlagen neben ihr auf der Wiese lag, und spielte mit einer rotbraunen Locke ihres Haars. Mit großen Augen blickte sie auf die Abbildung. »Sehe ich unter meiner Haut wirklich so gruselig aus?«
Justin nahm ihr den Anatomie-Atlas aus der Hand und legte ihn wieder neben sie. »Du hast versprochen, mir zu helfen. Du weißt doch, dass es mein größter Wunsch ist, einmal Arzt zu werden.« Hoch konzentriert befühlte er durch den Stoff des Hemdes ihre Rippen.
Claire Reece war vierzehn Jahre alt und Justins bester Freund. Da ihre Mutter bei der Geburt von Claire gestorben war, lebte sie zusammen mit zwei Brüdern und dem Vater in einem Cottage auf dem angrenzenden Grundstück. Es war unschwer zu erkennen, dass in dem Haushalt eine weibliche Hand fehlte, denn Claire sah beinahe selbst wie ein Junge aus: Sie steckte in den Kleidungsstücken ihrer Brüder und hatte ihr Haar unter einem Schlapphut verborgen, unter dem einzelne Strähnen hervorlugten. Wie gerne wollte Jus auch nach einer Locke greifen, um zu fühlen, ob sie so weich war wie sie aussah.
Justins Vater, der niemand anderes als der Duke von Dangerfield war, hatte sie einmal zusammen beim Spielen erwischt, Claire aber zum Glück nicht erkannt. Seitdem trafen sie sich immer heimlich, denn der Duke und Claires Vater Grayson Reece – ein verarmter Viscount – waren erbitterte Feinde. Jus wusste nicht, worum der Streit ging. Aber beide Erzeuger sahen es nicht gerne, wenn ihre Kinder miteinander verkehrten. Justin selbst hatte auch zwei große Brüder, die sich mit den Reece-Jungs am liebsten jedes Mal geprügelt hätten, würden sie nicht dem Adel angehören. Aber Justin störte es nicht, dass Claire ein armes, obwohl adliges Mädchen war, denn mit ihr konnte er sprichwörtlich Pferde stehlen. Und sie hatte sich freiwillig als Übungsobjekt zur Verfügung gestellt, was er von seinen Brüdern nicht verlangen konnte. Die hätten ihn auf der Stelle erschlagen.
»Musculus rectus abdominis«, murmelte er vor sich hin, während er versuchte, durch Claires Kleidung den Bauchmuskel zu ertasten. Aufstöhnend fuhr er sich durch sein schwarzes Haar. »Ich kann überhaupt nichts fühlen. Ich denke nicht, dass Patienten etwas anhaben, wenn ein Arzt sie untersucht.«
»Ach, nun sieh mich nicht so vorwurfsvoll an, Jus!« Claire gab einen gespielten Seufzer von sich und öffnete dann die unteren Knöpfe des Hemdes. Ein bemerkenswert flacher und käseweißer Bauch kam zum Vorschein. »Aber wenn du mich wieder kitzelst, kannst du dir jemand anderen suchen!«
Justin wusste, dass sie es ernst
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