Die Lagune Der Flamingos
flüsterte Irmelind. »Vroni.«
Es tat immer noch so weh. Tränen traten in ihre Augen. Sie wischte sich mit dem Handrücken darüber. Heute, genau an diesem Tag, wäre Vroni achtunddreißig Jahre alt geworden. Sicherlich wäre sie mittlerweile verheiratet, und es hätten sich noch mehr Kinder zu Irmelinds und Hermanns Enkelschar hinzugesellt. Vronis zwei Jahre älterer Bruder hatte schon lange Nachwuchs, zwei Jungen und ein Mädchen. Es freute Irmelind, sie zu sehen, aber auch der Anblick der Kleinen konnte ihr nicht über Vronis Tod hinweghelfen. Sie hatte sich manchmal gefragt, warum der Schmerz so schwer wog, aber Vroni und sie hatten immer eine tiefere Beziehung zueinander gehabt. Sie hatten immer gewusst, was der andere fühlte, ohne dass sie es aussprechen mussten. Sie hatten einander von ihren Träumen erzählt. Sie hatten zusammen gelacht. Sie waren mehr gewesen als nur Mutter und Tochter.
Seit Vronis Verlust erledigte Irmelind ihre täglichen Pflichten, aber sie lebte nicht mehr richtig. Vielleicht war es nicht gerecht der Familie gegenüber, doch etwas in ihr war damals für immer gestorben.
Mina saß mit ihrer Mutter auf der Veranda vor dem kleinen Haus und flickte die Kleidung der Amborn-Männer. Ihre Gedanken schweiften wie immer, wenn sie ein wenig zur Ruhe kam, zu Frank. In den vergangenen Wochen war er an keinem der Orte aufgetaucht, an denen Mina und er sich heimlich getroffen hatten, obwohl sie so sehr darauf hoffte. Er kann doch nicht einfach verschwinden, sagte sie sich immer wieder, nicht, ohne mir Lebewohl zu sagen, nicht, ohne mir zu sagen, wo wir einander wiedersehen.
Bald brodelte die Gerüchteküche schier über. Es gab die, für die Frank zweifelsohne ein Mörder war, und andere, die so etwas für vollkommen abwegig hielten.
»Doch nicht Frank«, sagten sie, »Frank ist ein guter Junge. Niemals hätte Frank einen anderen zu Tode geprügelt.«
»Und was ist mit dem Hemd und den Blutflecken darauf?«, fragten die anderen.
Niemand wusste bisher allerdings von der Uhr, die Mina in Philipps Rock gefunden hatte und die sie, seit jenem Tag, an dem Philipp sie beinahe erwischt hatte, vergeblich suchte. Ein furchtbarer Verdacht quälte sie: Was, wenn Philipp etwas mit dem Mord zu tun hatte? Was, wenn er sogar der Mörder war? Zuzutrauen war es ihm. Aber wie sollte sie das beweisen?
Claudius Liebkind, der nie gemeinsam mit seinen Eltern auf deren kleinem Bauernhof bei Esperanza gelebt hatte, fand indes seine letzte Ruhe auf dem Friedhof der Stadt. Danach kehrte das Leben in seine normale Bahn zurück. Mina jedoch fühlte sich unendlich verlassen. Der Einzige, mit dem sie hatte reden können, der, der ihre Zukunftspläne geteilt hatte, der sie in den Arm genommen, dem sie etwas bedeutet hatte, war aus ihrem Leben verschwunden.
Frank.
Wie soll ich es nur aushalten ohne Frank? Wie soll ich allein hierbleiben, ohne wahnsinnig zu werden? Wer wird mich vor Philipp schützen?
In den Wochen nach Franks Flucht hatte Mina bereits einen Eindruck des Lebens bekommen, das nun vor ihr lag. Am Morgen danach schon hatte sie etwas in den Augen des Stiefbruders gelesen, das sie zutiefst beunruhigte. Und dann hatte er sie brutal geküsst. In der darauffolgenden Zeit stellte Philipp ihr täglich nach. Er griff nach ihrem Gesäß, küsste ihr Dekolleté, riss an ihren Haaren, wenn sie versuchte, sich ihm zu entziehen.
»Du wirst mich nicht los«, drohte er ihr stets mit einem Grinsen, »du wirst mich niemals mehr loswerden.«
Mina bemühte sich nach Kräften, ihrem Stiefbruder so selten wie möglich allein zu begegnen. Sie wusste, dass er sich nahm, was ihm nicht freiwillig gegeben wurde. Sie wusste, dass er sich eines Tages alles nehmen würde.
»Ich muss hier fort«, sagte Mina unvermittelt zu ihrer Mutter und schluckte nicht zum ersten Mal die Tränen herunter, die ihr in die Augen stiegen.
»Ich weiß.« Annelie hob den Kopf nicht, während sie ihrer Tochter antwortete. »Du könntest in Esperanza in Stellung gehen«, fuhr sie dann fort, »zumindest, bis sich die ganze Sache aufklärt.«
»Du glaubst auch nicht, dass er es war?«
»Nein.« Annelie hob den Kopf und schaute ihre Tochter aus ihren hübschen graublauen Augen an. »Niemals. Frank nicht. Frank ist ein guter Kerl. Der schlägt keinen tot.«
Mina zögerte. »Ich habe etwas … gesehen, an jenem Tag«, setzte sie dann zögerlich an. »Bei Philipp.«
Ihre Mutter senkte ihren Kopf wieder und ließ Nadel und Faden geschickt durch den
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