Der stille Herr Genardy
ERSTER TEIL
Es war an einem Tag im Dezember, als der Mann das Kind zum erstenmal sah. Als er kurz nach fünf von der Arbeit kam, stand es vor dem Schaufenster, direkt unter der Leuchtschrift
»Tierhandlung Wolfgang Weber«. Beide Hände hatte es gegen das Glas gelegt und das Gesicht so nahe an die Scheibe gebracht, daß sie unter dem Atem beschlagen und sogar ein wenig vereist war. Es war sehr kalt an dem Tag, dunkel war es auch bereits. Hinter der Scheibe hockten ein paar Zwergkaninchen in einem Käfig, gleich daneben war ein Hamster untergebracht. Weiter hinten im Laden, aber dennoch von der Straße aus gut zu sehen, standen etliche Vogelbauer in unterschiedlichen G rößen und ein Aquarium von gut einem Meter Seitenlänge. Der Mann kannte das alles. Seit zwei Jahren lebte er im ersten Stock des Hauses, direkt über den Räumen der Tierhandlung. Er kam täglich an dem Schaufenster vorbei, ohne die Tiere darin zu beachten, weil gleich neben dem Fenster die Haustür lag. Und wenn er vorbeiging, zog er meist gerade den Schlüssel aus der Tasche, hatte nur einen Gedanken, ins Haus zu kommen, hinauf in seine Wohnung zu steigen, sich hinzusetzen und ein wenig auszuruhen. Auch dem Kind schenkte er an diesem Dezembertag noch keine besondere Beachtung. Es hatte nichts an sich, was ihn auf den ersten Blick angesprochen hätte. Ein Mädchen von mindestens elf, vielleicht sogar zwölf Jahren, nicht einmal hübsch zu nennen. Zu groß für seinen Geschmack und zu mager.
Die weichen Formen, die ihn bei Kindern so magisch anzogen, hatte es bereits verloren. Aber vielleicht wurden die Formen auch nur von der dicken Kleidung verschluckt. Brust, Rücken und Arme des Kindes waren in eine unförmige Jacke gehüllt, dazu trug es eine Hose aus derbem Stoff. Sie paßte nicht richtig, war über den Füßen mehrfach umgeschlagen, so daß sich ein dicker Wulst um die Knöchel bildete. Beide Knie und der Hosenboden waren dreckig, auch die Jacke wies ein paar Flecken auf. Und die Finger, mit denen das Kind gegen die Scheibe klopfte, hatten unter den teilweise abgebrochenen Nägeln breite, schwarze Ränder. Kleinigkeiten, die der Mann im Vorbeigehen registrierte, ohne sich dessen bewußt zu werden. Was sich ihm einprägte, war lediglich der Ausdruck auf dem Gesicht des Kindes. Er machte dem Mann mehr als alles andere deutlich, daß das Mädchen die meiste Zeit sich selbst überlassen war. Es sprach mit den Tieren hinter der Scheibe, das hörte er, als er die Haustür aufschloß, mit welchen genau, war nicht ersichtlich. Es interessierte ihn auch nicht. Er trat ins Haus, ging durch den schmalen Flur zur Treppe. Der widerliche Geruch von Fischfutter stach ihm in die Nase. Jedesmal, wenn er von draußen hereinkam, bemerkte er diesen Gestank, und jedesmal schien er ihm ein bißchen stärker. Seit er hier eingezogen war, ärgerte er sich darüber. Und seit dem ersten Tag war er fest entschlossen, bei der nächstbesten Gelegenheit wieder auszuziehen. An jedem Freitag und jedem Samstag kaufte er eine Zeitung und suchte den Anzeigenteil ab. Bisher hatte er nicht gefunden, was ihm vorschwebte; eine hübsche Wohnung in einem gepflegten Haus, in einer besseren Gegend, zu einem erschwinglichen Mietpreis. So eine, wie er sie früher gehabt hatte. Sie war nicht zu groß, nicht zu klein und nicht zu teuer gewesen, hatte einen Balkon vor dem Wohnzimmer gehabt, und die Umgebung war friedlich und sauber. Kaum Verkehr auf den Straßen, ein Spielplatz in unmittelbarer Nähe, in Grün eingebettet. Da hatte er im Frühjahr, im Sommer und im Herbst oft am Spätnachmittag auf einer Bank am Rand des Platzes gesessen, die Sonne genossen und den Kindern zugeschaut. Nur zugeschaut. Und sich an seine Tochter erinnert. Ein harmloses, manchmal sogar schmerzliches Vergnügen. Bei schlechtem Wetter hatten oft ein paar Kinder im Hausflur gespielt. Es hatte ihn nie gestört, wenn sie Lärm vor seiner Tür machten. Fast zwanzig Jahre hatte er dort gelebt, war zufrieden gewesen und gut mit den Nachbarn zurechtgekommen. Aber er kam mit allen Leuten gut zurecht, schaffte es meist innerhalb von Sekunden, sein Gegenüber einzuschätzen, und wußte dann genau, wie er sich geben mußte. Trotzdem war es in den letzten Jahren ein Stück bergab gegangen mit ihm. Zuerst hatte er seine Arbeit verloren.
Durch eine dumme Sache, genaugenommen nur eine Unvorsichtigkeit. Es war eine Beschwerde gegen ihn eingegangen, und man bat ihn um seine Stellungnahme. Hinauswerfen konnte man ihn nicht
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