Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
Vom Netzwerk:
konnte ich nicht
     umhin, ihm sein neuestes Bild abzukaufen.»
    «Hat er dir von ihr erzählt?», fragte Andrew, um einen gleichgültigen Ton bemüht.
    «Von der Hure? Er hat mir nur ihren Namen genannt. Ich glaube, sie hieß Marie Jeannette.»
    Marie Jeannette, dachte Andrew. Der Name passte genauso gut zu ihr wie das kecke Hütchen.
    «Eine Hure aus Whitechapel   …», murmelte er immer noch fassungslos.
    «Eine Hure aus Whitechapel, ja. Und mein Vater hängt |41| sie sich in die Bibliothek!», rief Charles und breitete in einer komischen Siegergeste die Arme aus. «Ist das nicht schlicht
     und einfach genial?»
    Charles legte seinem Cousin den Arm um die Schulter und führte ihn in den Salon, wo sie auf ein anderes Thema zu sprechen
     kamen. Andrew war tunlichst bemüht, sich seine Bestürzung nicht anmerken zu lassen. Er musste unentwegt an die junge Frau
     auf dem Gemälde denken, während sie beide ihre Eroberungsstrategie für die bezaubernden Keller-Zwillinge planten.
     
    In dieser Nacht, in seinem Schlafzimmer, fand Andrew keinen Schlaf. Wo mochte die Frau auf dem Bild jetzt sein? Was tat sie
     gerade? Nach der vierten oder fünften Frage nannte er sie schon beim Namen, als würde er sie tatsächlich kennen und stände
     in einer Vertraulichkeit zu ihr, die nicht existierte. Aber dass er wirklich krank war, begriff er, als er eine absurde Eifersucht
     auf die armen Schlucker zu entwickeln begann, denen für ein paar Pennys vergönnt war, was ihm, trotz seines Reichtums, unerreichbar
     bleiben würde. Obwohl, war es denn ein unumstößliches Gesetz, dass sie für ihn unerreichbar blieb? Seinem Stande nach konnte
     er sie, zumindest körperlich, doch leichter besitzen als jede andere, und das sogar für den Rest seines Lebens. Das Problem
     war, sie zu finden. Andrew war noch nie in Whitechapel gewesen, wenngleich er über das Viertel schon genug gehört hatte, um
     zu wissen, dass es kein empfehlenswertes war, schon gar nicht für einen seines Standes. Es war nicht ratsam, sich allein dorthin
     zu begeben, so viel war klar; aber auf Charles konnte er nicht zählen. Sein Cousin würde kein Verständnis dafür haben, dass
     ihm |42| das verwahrloste Geschlecht dieser schlampigen Nutte mehr zusagte als der süße Honigtopf, den die reizenden Geschwister Keller
     in ihren Höschen bargen, oder die duftenden Huren aus Chelsea, an denen sich die Hälfte der vornehmsten Gentlemen des West
     End labte. Vielleicht verstünde er ihn, wäre vielleicht sogar bereit, ihn aus Spaß dahin zu begleiten, wenn Andrew es ihm
     als eine Laune verkaufte; aber er wusste, dass das, was er empfand, viel zu stark war, als dass er es als vorübergehende Laune
     deklarieren konnte. Oder? Bis er sie nicht in seinen Armen gehalten hatte, würde er ja nicht wissen, was er von ihr wollte.
     Sollte es wirklich so schwer sein, sie zu finden? Drei schlaflose Nächte reichten, um ihn seinen Plan schmieden zu lassen.
    Und während im Kristallpalast, der nach Sydenham umgezogen war, nachdem er in seinem riesigen Bauch aus Glas und Schmiedeeisen
     die Schmuckstücke der Industrie des Empires beherbergt hatte, jetzt Orgelspiele, Kinderballett, Bauchredner und sogar Imbissmöglichkeiten
     in seinen herrlichen Gartenanlagen angeboten wurden, begleitet von einer Herde Dinosauriern, Iguanodonten und Säbelzahntigern,
     die den in Sussex Weald gefundenen Fossilien nachgebildet worden waren, und während das Wachsmuseum der Madame Tussaud für
     schlaflose Nächte bei den Besuchern der berühmten Schreckenskammer sorgte, wo sich neben der Guillotine, mit der Marie Antoinette
     geköpft worden war, dicht an dicht all die Wahnsinnigen, Mörder und Giftmischer drängten, die Blut über England gebracht hatten,
     betrachtete Andrew Harrington, den die Feststimmung, die sich über die ganze Stadt gelegt hatte, unberührt ließ, im Spiegel
     seine Verkleidung. Die ärmlichen, abgetragenen |43| Sachen hatte ihm einer der Diener geborgt. Als er sich in der verschlissenen Jacke und der fadenscheinigen Hose erblickte,
     das blonde Haar unter einer bis zu den Augen herabgezogenen karierten Mütze verborgen, musste er unwillkürlich lächeln. Mit
     diesem Aussehen würde ihn jeder für einen armen Schlucker halten, für einen Schuster vielleicht, oder einen Barbier. So verkleidet,
     bat er einen erstaunten Harold, ihn nach Whitechapel zu fahren. Bevor sie losfuhren, verpflichtete er den Kutscher zu absolutem
     Stillschweigen. Niemand durfte von diesem Ausflug

Weitere Kostenlose Bücher