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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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verurteilt
     war. Andrew tat, was er konnte, aber die junge Frau interpretierte seinen brennenden Blick auf die gleiche Weise wie den der
     übrigen Freier, die sich Nacht für Nacht an sie heranmachten.
    «Danke, Sir», antwortete sie und unterlegte ihre Worte mit einem schamlosen Lächeln, das sie sich vermutlich mühsam abringen
     musste.
    Diese für ihn in höchstem Maß bedeutungsvolle Mimik mit einem Kopfnicken herunterspielend, erkannte Andrew voller Schrecken,
     dass er trotz seines ausgeklügelten Plans nicht bedacht hatte, wie er ein Gespräch mit ihr beginnen sollte, wenn er sie leibhaftig
     vor sich sah. Was konnte er mit ihr reden? Mehr noch: Worüber konnte er mit einer Hure reden? Einer Hure aus Whitechapel,
     um es genau zu sagen. Mit den Edelhuren aus Chelsea hatte er immer nur das Nötigste gesprochen, die Stellung oder die Zimmerbeleuchtung
     betreffend, und mit den reizenden Keller-Zwillingen oder sonstigen weiblichen Bekanntschaften, jungen |50| Damen, die man nicht verunsichern soll, indem man mit ihnen über Politik oder Darwins Theorien zu sprechen versuchte, unterhielt
     er sich über Banalitäten wie die neueste Mode aus Paris, über Botanik und neuerdings über Spiritismus, ein modisches Freizeitvergnügen,
     das fast alle betrieben, die er kannte. Keines dieser Themen schien ihm jedoch für eine Frau geeignet, die kaum daran interessiert
     sein konnte, irgendeinen Hausgeist anzurufen, damit der ihr sage, mit welchem ihrer vielen reichen Verehrer sie am Ende vor
     den Traualtar treten werde. Also beschränkte er sich darauf, sie voller Verzückung anzustarren. Zum Glück kannte Marie Kelly
     ein wirksameres Mittel, das Eis zu brechen.
    «Ich weiß, wonach Ihnen der Sinn steht, Sir, obwohl Ihre Schüchternheit Sie hindert, es auszusprechen», sagte sie, ihr Lächeln
     verstärkend und flüchtig seine Hand berührend, was ihn am ganzen Körper erschauern ließ. «Für drei Pennies kann ich Ihre Träume
     wahr werden lassen. Zumindest heute Nacht.»
    Andrew betrachtete sie gerührt. Sie wusste ja nicht, wie recht sie hatte. Sie war der einzige Traum seiner letzten Nächte
     gewesen, sein tiefstes Verlangen, sein dringendstes Begehren, und jetzt endlich, dachte er ungläubig, könnte er sie besitzen.
     Allein bei dem Gedanken daran, sie berühren, den schlanken Leib, der sich unter der verschlissenen Kleidung abzeichnete, liebkosen
     und ihren Lippen tiefe Seufzer entlocken zu können, während er zugleich unter diesen Blicken eines lodernden Temperaments,
     eines unbezähmbaren misshandelten Geschöpfs entflammte, durchlief ihn von Kopf bis Fuß ein erregendes Kribbeln. Die Erregung
     verwandelte sich allerdings in |51| tiefe Traurigkeit, als er die ungerechte Hilflosigkeit dieses verirrten Engels sah, die Leichtigkeit, mit der ein jeder ihn
     betatschen, in einer stinkenden Gasse schänden konnte, ohne dass irgendein Mensch auf der Welt seine Stimme dagegen erhob.
     War dieses außergewöhnliche Wesen dafür erschaffen worden? Mit einem Knoten im Hals akzeptierte er ihr Angebot, beschämt,
     sie genauso nehmen zu müssen wie alle anderen, als unterschiede sich sein Vorhaben nicht von dem ihrer sonstigen Kunden. Nachdem
     er sich einverstanden erklärt hatte, strahlte Marie Kelly ihn mit einer Begeisterung an, die Andrew aufgesetzt vorkam, und
     bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, den Pub mit ihr zu verlassen.
     
    Für Andrew war es ein merkwürdiges Gefühl, mit kleinen hüpfenden Spatzenschritten hinter der Hure herzutrippeln, als führte
     Marie Kelly ihn zum Schafott anstatt zum Ankergrund ihres Schoßes. Aber: Hätte diese Begegnung wirklich anders verlaufen können?
     Seit er über das Gemälde im Hause seines Cousins gestolpert war, hatte er nichts anderes getan, als sich auf unbekanntes Gebiet
     vorzutasten, wo er sich nicht orientieren konnte, weil ihm nichts auf dem Weg bekannt vorkam, wo alles neu war und, nach den
     trostlosen Gassen zu urteilen, durch die sie gingen, möglicherweise sogar gefährlich. Lief er vielleicht sorglos in eine Falle,
     die der Zuhälter des Nuttchens ihm gestellt hatte? Er fragte sich, ob Harold seine Schreie würde hören können, und wenn ja,
     ob er es für nötig erachten würde, ihm zu Hilfe zu eilen, oder ob er die Gelegenheit ergreifen und sich für die Herablassung
     rächen würde, mit der Andrew ihm all die Jahre begegnet war. Nachdem sie ein |52| kurzes Stück die Hanbury Street, eine schmutzstarrende, von einer flackernden Öllampe an der

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