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Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
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ins übelste Viertel Londons erfahren; weder sein Vater noch die Mutter,
     noch sein Bruder Anthony, nicht einmal Cousin Charles. Niemand.

|44| III
    Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, ließ Andrew die luxuriöse Kutsche in Leadenhall halten und ging zu Fuß weiter bis zur
     Commercial Street. Nachdem er ein gutes Stück durch diese übelriechende Straße geschlendert war, nahm er all seinen Mut zusammen
     und tauchte in das Gewirr von Gassen ein, aus dem Whitechapel bestand. Er war kaum zehn Minuten gegangen, und es hatte sich
     bereits ein Dutzend Prostituierter aus dem Nebel geschält und ihn zu einem Ausflug auf den Venushügel animiert, doch keine
     von ihnen war die Frau von dem Bild. Wären sie von Algen umwunden gewesen, Andrew hätte sie für rissige, schmutzstarrende
     Galionsfiguren gehalten. Er wies sie höflich zurück, ohne sein Gehen zu unterbrechen, und empfand ein tiefes Mitgefühl für
     diese vor Kälte zusammengekrümmten Vogelscheuchen, die so ihr Leben fristen mussten. Das lüsterne Lächeln, das ihre zahnlosen
     Münder zustande zu bringen versuchten, erregte mehr Abscheu als Verlangen. Sollte Marie, außerhalb des Bildes, auch so aussehen,
     fern der Pinsel, die sie zu einem engelhaften Wesen verklärt hatten?
    Er erkannte bald, dass er sie durch Zufall kaum finden würde. Vielleicht wäre es geschickter, einfach nach ihr zu fragen.
     Er überprüfte seine Verkleidung und betrat entschlossen |45| das
Ten Bells
, eine belebte Kneipe an der Ecke Fournier und Commercial Street, genau gegenüber der geisterhaften Christ Church, und die,
     so stellte er durch die Fenster spähend fest, auch der Ort zu sein schien, an dem die Huren ihre Freier suchten. Zwei von
     ihnen hingen schon an seinem Hals, noch bevor er die Bar erreicht hatte. Andrew versuchte unverkrampft zu erscheinen und lud
     sie auf ein Pint Schwarzbier ein, lehnte ihre Angebote so höflich es ging ab und erklärte ihnen, er suche eine Frau namens
     Marie Jeannette. Eine der beiden gab sich beleidigt und zog umstandslos ab, hatte vermutlich keine Lust, die Zeit mit jemandem
     zu vertrödeln, der kein Geld für sie ausgeben würde; die andere jedoch, die Größere von beiden, blieb und bedankte sich für
     die Einladung.
    «Ich nehme an, du meinst Marie Kelly. Alle wollen nur diese verdammte Irin. Um diese Zeit hat sie wahrscheinlich schon ein
     paar Kerle bedient und ist jetzt im
Britain Pub
. Dahin gehen wir alle, wenn wir genug verdient haben, um uns ein Bett leisten zu können und vielleicht noch ein schnelles
     Besäufnis, um dies erbärmliche Leben zu vergessen», sagte sie, und in ihrer Stimme lag mehr Ironie als Groll.
    «Wo finde ich das
Britain
?», wollte Andrew wissen.
    «Gleich um die Ecke. An der Kreuzung von Crispin und Dorset Street.»
    Andrew dankte ihr die Information mit vier Schilling.
    «Such dir ein Zimmer», empfahl er ihr mit freundlichem Lächeln. «In dieser Nacht ist es zu kalt, um draußen zu bleiben.»
    «Oh, danke, Sir. Sie sind sehr großzügig», entgegnete die Hure aufrichtig dankbar.
    |46| Andrew tippte sich an die Mütze und verabschiedete sich.
    «Komm zu mir, wenn Marie Kelly dir nicht gibt, was du brauchst», rief sie ihm nach, um einen Rest von Koketterie bemüht, den
     ihr zahnloses Lächeln verhunzte. «Ich heiße Liz, Liz Stride, nicht vergessen!»
    Andrew hatte keine Mühe, den
Britain Pub
zu finden; eine schlichte Spelunke mit einer langen Fensterfront. Drinnen hingen zwar genug Öllampen, doch der Tabakqualm
     war so dicht, dass man nur mit Mühe etwas erkennen konnte. Im Hintergrund gab es eine lange Theke, links davon zwei Séparées.
     Der mit Sägemehl ausgestreute Kneipenraum war vollgestellt mit kleinen Holztischen, an denen sich die lärmende Kundschaft
     drängte. Ein Heer von Kellnern mit schmierigen Schürzen balancierte überschäumende Bierkrüge aus Zinn zwischen den Tischen
     und Gästen hindurch. In einer Ecke des Raums bot ein klappriges Klavier sein fleckiges Tastengebiss jedem dar, der glaubte,
     den Lärm noch etwas befeuern zu müssen. Andrew erreichte die Theke, die überquoll von Bierkrügen, Ölfunzeln und Tellern voller
     Käsebrocken, so groß wie aus einem Steinbruch gehauene Steine. An der Flamme einer der Lampen zündete er sich eine Zigarette
     an, bestellte ein Pint Bier und studierte die Gäste, unauffällig am Tresen lehnend, mit gerümpfter Nase wegen des aus der
     Küche hereindringenden Gestanks von heißen Würstchen. Genau wie man ihm angekündigt hatte,

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