Die Landkarte der Zeit
herrschte hier eine weit ruhigere
Atmosphäre als im
Ten Bells
. An den Tischen saßen Seeleute auf Landgang und Ansässige, die genauso bescheiden gekleidet waren wie er selbst, oder auch
Gruppen von Huren, die eifrig damit beschäftigt waren, sich zu |47| betrinken. Er nippte an seinem Bier und versuchte Marie Kelly unter ihnen zu erkennen, doch keine entsprach der Beschreibung.
Beim dritten Bier sank ihm allmählich der Mut, und er fragte sich, was zum Teufel er hier eigentlich zu finden hoffte.
Er wollte gerade gehen, als sie zur Tür hereinkam. Er erkannte sie sofort. Sie war das Mädchen von dem Bild, daran bestand
kein Zweifel, und jetzt, da sie sich bewegte, schien sie ihm sogar noch viel schöner zu sein. Sie wirkte erschöpft, dennoch
bewegte sie sich mit einer Energie, die Andrew ihr schon auf dem Gemälde angesehen hatte. Die meisten Gäste nahmen sie gar
nicht wahr. Wie konnte es sein, dass kein Mensch auf das kleine Wunder reagierte, das sich gerade im Lokal ereignete? Angesichts
der einmütigen Gleichgültigkeit fühlte sich Andrew wie ein bevorzugter Augenzeuge dieses Wunders. Er erinnerte sich an einen
Vorfall, der lange zurücklag. Als Kind hatte er einmal zugesehen, wie der Wind ein herabfallendes Blatt von einem Baum in
seine unsichtbaren Finger genommen und es auf der Spitze im Wasser einer Pfütze hatte tanzen lassen wie eine Ballerina, bevor
ein Wagenrad den Tanz zerstörte, sodass Andrew das Gefühl gehabt hatte, die Natur habe sich mit ihm verbündet, um dieses Kunststück
für einen einzigen Zuschauer vorzuführen. Seitdem hegte er die Überzeugung, das Ausbrechen von Vulkanen sei eine Ehrerbietung
des Universums gegenüber der ganzen Menschheit, während das Universum sich andererseits mit besonderem Eifer an eine Handvoll
Auserwählter wandte, die wie er die Wirklichkeit als eine Art Tapete sehen konnten, hinter der sich eigentlich etwas anderes
befand. Bestürzt haftete sein Blick an Marie Kelly, die direkt auf ihn zukam, |48| als würde sie ihn kennen. Sein Herz tat einen Sprung, doch dann beruhigte er sich ein wenig, als sie sich mit beiden Ellenbogen
auf die Theke stützte und ein halbes Pint Bier bestellte, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
«Wie läuft’s heute Nacht, Marie?», fragte die Wirtin.
«Ich kann nicht klagen, Mrs. Ringer.»
Andrew schluckte und wäre fast ohnmächtig geworden. Da stand sie, direkt neben ihm. Er konnte es nicht glauben. Er hatte sogar
ihre Stimme gehört. Eine müde, etwas heisere Stimme, jedoch wunderschön. Und wenn er sich konzentrierte und all die überflüssigen
Gerüche von Zigarettenqualm und Würstchendampf hinwegwischte, würde er sie vielleicht sogar riechen können. Marie Kelly riechen!
Verzaubert schaute Andrew sie voller Ehrfurcht an, fand in jeder ihrer Bewegungen bestätigt, was er längst wusste. So wie
eine Muschel in ihrem Innern das Tosen des Meeres birgt, schien auch dieser so zerbrechlich wirkende Körper eine Naturgewalt
in sich zu bergen.
Als die Wirtin das Bier auf den Tresen stellte, sah Andrew eine Gelegenheit, die er nicht verpassen durfte. Hastig kramte
er in seinen Taschen und kam ihr mit der Bezahlung zuvor.
«Gestatten Sie, dass ich Sie einlade, Miss», sagte er.
Mit dieser ebenso edelmütigen wie schroffen Bemerkung handelte er sich den unverblümt abschätzenden Blick von Marie Kelly
ein. Ihre Augen auf sich gerichtet zu sehen ließ ihn erstarren. Wie das Bild ihn bereits hatte sehen lassen, war der Blick
des Mädchens wunderschön, schien jedoch unter einer Schicht von Verbitterung begraben. Er verglich ihn unwillkürlich mit einer
Blumenwiese, die jemand als Abfallanger benutzte. Trotzdem fühlte er |49| sich von einem Lichtstrahl geblendet und versuchte, den Moment ihrer sich begegnenden Blicke für sie ebenso bedeutsam erscheinen
zu lassen wie für ihn. Doch ein paar Dinge gibt es im Leben, die sich nicht mit Blicken ausdrücken lassen. Wie konnte Andrew
sie an dem fast mystischen Empfinden teilhaben lassen, das ihn in diesem Moment gefangen nahm? Wie konnte er ihr nur mit den
Augen erklären, dass er sie, ohne es zu wissen, sein Leben lang gesucht hatte? Wenn wir bedenken, dass das Leben, das Marie
Kelly bis dahin geführt hatte, nicht gerade dazu angetan gewesen war, sie die Feinheiten dieser Welt erfassen zu lassen, werden
Sie sich nicht wundern, dass dieser erste Versuch einer geistigen Kommunion, um es einmal so zu nennen, zum Scheitern
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