Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Landkarte der Zeit

Titel: Die Landkarte der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Félix J. Palma
Vom Netzwerk:
herrschte hier eine weit ruhigere
     Atmosphäre als im
Ten Bells
. An den Tischen saßen Seeleute auf Landgang und Ansässige, die genauso bescheiden gekleidet waren wie er selbst, oder auch
     Gruppen von Huren, die eifrig damit beschäftigt waren, sich zu |47| betrinken. Er nippte an seinem Bier und versuchte Marie Kelly unter ihnen zu erkennen, doch keine entsprach der Beschreibung.
     Beim dritten Bier sank ihm allmählich der Mut, und er fragte sich, was zum Teufel er hier eigentlich zu finden hoffte.
    Er wollte gerade gehen, als sie zur Tür hereinkam. Er erkannte sie sofort. Sie war das Mädchen von dem Bild, daran bestand
     kein Zweifel, und jetzt, da sie sich bewegte, schien sie ihm sogar noch viel schöner zu sein. Sie wirkte erschöpft, dennoch
     bewegte sie sich mit einer Energie, die Andrew ihr schon auf dem Gemälde angesehen hatte. Die meisten Gäste nahmen sie gar
     nicht wahr. Wie konnte es sein, dass kein Mensch auf das kleine Wunder reagierte, das sich gerade im Lokal ereignete? Angesichts
     der einmütigen Gleichgültigkeit fühlte sich Andrew wie ein bevorzugter Augenzeuge dieses Wunders. Er erinnerte sich an einen
     Vorfall, der lange zurücklag. Als Kind hatte er einmal zugesehen, wie der Wind ein herabfallendes Blatt von einem Baum in
     seine unsichtbaren Finger genommen und es auf der Spitze im Wasser einer Pfütze hatte tanzen lassen wie eine Ballerina, bevor
     ein Wagenrad den Tanz zerstörte, sodass Andrew das Gefühl gehabt hatte, die Natur habe sich mit ihm verbündet, um dieses Kunststück
     für einen einzigen Zuschauer vorzuführen. Seitdem hegte er die Überzeugung, das Ausbrechen von Vulkanen sei eine Ehrerbietung
     des Universums gegenüber der ganzen Menschheit, während das Universum sich andererseits mit besonderem Eifer an eine Handvoll
     Auserwählter wandte, die wie er die Wirklichkeit als eine Art Tapete sehen konnten, hinter der sich eigentlich etwas anderes
     befand. Bestürzt haftete sein Blick an Marie Kelly, die direkt auf ihn zukam, |48| als würde sie ihn kennen. Sein Herz tat einen Sprung, doch dann beruhigte er sich ein wenig, als sie sich mit beiden Ellenbogen
     auf die Theke stützte und ein halbes Pint Bier bestellte, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
    «Wie läuft’s heute Nacht, Marie?», fragte die Wirtin.
    «Ich kann nicht klagen, Mrs.   Ringer.»
    Andrew schluckte und wäre fast ohnmächtig geworden. Da stand sie, direkt neben ihm. Er konnte es nicht glauben. Er hatte sogar
     ihre Stimme gehört. Eine müde, etwas heisere Stimme, jedoch wunderschön. Und wenn er sich konzentrierte und all die überflüssigen
     Gerüche von Zigarettenqualm und Würstchendampf hinwegwischte, würde er sie vielleicht sogar riechen können. Marie Kelly riechen!
     Verzaubert schaute Andrew sie voller Ehrfurcht an, fand in jeder ihrer Bewegungen bestätigt, was er längst wusste. So wie
     eine Muschel in ihrem Innern das Tosen des Meeres birgt, schien auch dieser so zerbrechlich wirkende Körper eine Naturgewalt
     in sich zu bergen.
    Als die Wirtin das Bier auf den Tresen stellte, sah Andrew eine Gelegenheit, die er nicht verpassen durfte. Hastig kramte
     er in seinen Taschen und kam ihr mit der Bezahlung zuvor.
    «Gestatten Sie, dass ich Sie einlade, Miss», sagte er.
    Mit dieser ebenso edelmütigen wie schroffen Bemerkung handelte er sich den unverblümt abschätzenden Blick von Marie Kelly
     ein. Ihre Augen auf sich gerichtet zu sehen ließ ihn erstarren. Wie das Bild ihn bereits hatte sehen lassen, war der Blick
     des Mädchens wunderschön, schien jedoch unter einer Schicht von Verbitterung begraben. Er verglich ihn unwillkürlich mit einer
     Blumenwiese, die jemand als Abfallanger benutzte. Trotzdem fühlte er |49| sich von einem Lichtstrahl geblendet und versuchte, den Moment ihrer sich begegnenden Blicke für sie ebenso bedeutsam erscheinen
     zu lassen wie für ihn. Doch ein paar Dinge gibt es im Leben, die sich nicht mit Blicken ausdrücken lassen. Wie konnte Andrew
     sie an dem fast mystischen Empfinden teilhaben lassen, das ihn in diesem Moment gefangen nahm? Wie konnte er ihr nur mit den
     Augen erklären, dass er sie, ohne es zu wissen, sein Leben lang gesucht hatte? Wenn wir bedenken, dass das Leben, das Marie
     Kelly bis dahin geführt hatte, nicht gerade dazu angetan gewesen war, sie die Feinheiten dieser Welt erfassen zu lassen, werden
     Sie sich nicht wundern, dass dieser erste Versuch einer geistigen Kommunion, um es einmal so zu nennen, zum Scheitern

Weitere Kostenlose Bücher