Die Lange Erde: Roman (German Edition)
Erde sehen. Jeder Mensch wusste, dass andere Menschen nie allzu weit entfernt waren.«
»Stimmt. Und mit den Wechslern sind sie immer nur einen Rösselsprung weit weg.«
»Aber das begreifen unsere Sinne nicht. Wissen Sie, wie viele Leute sich auf eigene Faust auf den Weg machen?«
»Nein.«
»Niemand. Na ja, so gut wie niemand. Zu wissen, dass man völlig allein auf einem ganzen Planeten ist, womöglich die einzige Seele im ganzen Universum? Neunundneunzig von hundert Menschen halten das nicht aus.«
Joshua kam sich nie allein vor. Immer war die Stille bei ihm, gleich jenseits des Himmels.
»Wie Selena bereits gesagt hat«, meldete sich Lobsang wieder zu Wort, »macht Sie genau das für uns interessant. Das und gewisse andere Eigenschaften, über die wir uns später noch unterhalten können. Ach ja, und die Tatsache, dass wir ein Druckmittel gegen Sie in der Hand haben.«
Joshua ging ein Licht auf. »Sie wollen, dass ich eine Reise antrete. In die Lange Erde.«
»Ja. Also genau das, was Sie so einzigartig gut beherrschen«, erwiderte Selena zuckersüß. »Wir möchten, dass Sie bis in die Megas vorstoßen, Joshua.«
Die Megas: So bezeichneten einige Pioniere die Welten, die mehr als eine Million Schritte von der Erde entfernt waren und die die meisten höchstens vom Hörensagen kannten.
»Warum?«
»Aus einem völlig unschuldigen Grund«, antwortete Lobsang. »Um zu sehen, was es da draußen so alles gibt.«
Selena lächelte. »Informationen die Lange Erde betreffend bilden sozusagen die Geschäftsgrundlage von transEarth, Mr Valienté.«
Lobsang war etwas mitteilsamer: »Überlegen Sie doch mal, Joshua. Bis vor fünfzehn Jahren stand der Menschheit nur eine Erde zur Verfügung. Ihre Träume reichten nicht weit, nur bis zu den Welten innerhalb des Sonnensystems, die alle öde und nutzlos und nur mit entsetzlich hohem finanziellem Aufwand zu erreichen waren. Nun besitzen wir den Schlüssel zu unzähligen Welten! Und wir haben noch nicht mal diejenigen gleich nebenan erforscht. Jetzt bietet sich uns die Gelegenheit, genau das zu tun.«
»Uns?«, fragte Joshua. »Soll ich dich etwa mitnehmen? Läuft es darauf hinaus? Ein Computer bezahlt mich dafür, dass ich den Chauffeur für ihn spiele?«
»Ja, so etwa in der Preisklasse«, antwortete Selena.
Joshua runzelte die Stirn. »Aus welchem Grund sollte ich das tun? Sie haben ein Druckmittel erwähnt?«
»Dazu kommen wir noch«, erwiderte Selena gelassen. »Wir haben Sie beobachtet, Joshua. Zum ersten Mal aktenkundig wurden Sie in einem Bericht, den Monica Jansson von der Polizei in Madison abgefasst hat, und zwar direkt nach dem Wechseltag. Darin geht es um einen geheimnisvollen Jungen, der zurückgekommen ist und dabei andere Kinder mitgebracht hat. Ein richtiger kleiner Rattenfänger von Hameln. Damals, als das Wünschen noch geholfen hat, wären Sie garantiert weltberühmt gewesen.«
»Und als das Wünschen dann nicht mehr geholfen hat«, warf Lobsang ein, »hätte man Sie garantiert einen Hexer genannt.«
Joshua seufzte. Ob wohl jemals Gras über diesen Tag wachsen würde? Er hatte nie ein Held sein wollen; er konnte es nicht leiden, wenn die Leute ihn so merkwürdig ansahen. Wenn sie ihn überhaupt ansahen. »Damals herrschte ein Riesendurcheinander, das war alles«, sagte er. »Wie sind Sie überhaupt darauf gekommen?«
»Aus Polizeiakten, wie der von Jansson«, antwortete der Getränkeautomat. »Das Gute an der Polizei ist, dass sie alles archiviert. Und ich liebe Datensammlungen aller Art. Sie verraten mir alles Mögliche. Sie verraten mir zum Beispiel, wer Ihre Mutter war, Joshua. Sie hieß Maria, hab ich recht?«
»Meine Mutter geht niemanden etwas an.«
»Joshua, jeder geht mich etwas an, und jeder ist aktenkundig. Und die Akten haben mir alles über Sie erzählt. Dass Sie wahrscheinlich etwas ganz Besonderes sind. Dass Sie am Wechseltag dort gewesen sind.«
»Am Wechseltag sind alle dort gewesen.«
»Schon. Aber für Sie war es nichts Neues, stimmt’s, Joshua? Sie haben sich dort zu Hause gefühlt. Zum ersten Mal in Ihrem Leben wussten Sie, dass Sie am richtigen Ort waren …«
3
W echseltag. Vor fünfzehn Jahren. Joshua war gerade dreizehn geworden.
Später wussten alle, wo sie am Wechseltag gewesen waren. Die meisten hatten tief in der Scheiße gesessen.
Damals wusste niemand, wer den Schaltplan für den Wechsler ins Netz gestellt hatte. Aber als der Abend wie eine Sense über die Welt strich, bauten überall Kinder und
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