Menschenkinder
VORWORT: WAS BRAUCHEN KINDER?
Eines der besten Erkennungszeichen für zukünftige »Absonderlichkeit« besteht beim Stillkind darin, dass es sich weigert, seinen Darm zu entleeren, wenn man es aufs Töpfchen setzt. 1 Das sagte der wohl bekannteste und einflussreichste Psychologe der Moderne, Sigmund Freud. Er vertrat allen Ernstes die Meinung, Säuglinge würden zu Neurotikern, wenn sie nicht auf Befehl ins Töpfchen machten. Wohl gemerkt: Säuglinge!
Wie kam Herr Freud eigentlich dazu, so etwas über kleine Kinder zu behaupten? Und vor allem: Kann das denn stimmen ?
Und die heutigen Theorien? »[Babys] mangelt es an Kultur, Einsichtsfähigkeit und Disziplin. Zu ihrer Kultivierung bedarf es einer klaren Autorität und der Bereitschaft, Unterordnung zu fordern. Als einziges Mittel, sich der Macht und der Autorität der Eltern zu erwehren, setzen Babys das Schreien ein. Wenn das Baby durch Schreien zur Unzeit Ansprüche anmeldet, sollten seine Eltern ihre rechtmäßige Macht nutzen und gelassen reagieren. (…) Die Rechnung zahlen sie sonst später.« Soweit Bernhard Bueb, der Autor des Bestsellers Lob der Disziplin .
Abgesehen davon, wer wohl bestimmt, was Zeit und was Unzeit ist: Worauf gründet der Lehrer Bueb eigentlich das, was er da über Babys behauptet? Und auch hier wieder: Stimmt das denn?
Stimmt es denn , dass Kinder noch bis zum »achten oder neunten Lebensjahr« gar keine Persönlichkeit haben, wie der nächste Shooting-Star am deutschen Erziehungshimmel, Michael Winterhoff, behauptet? Dass Kinder ihre Intelligenz entfalten, weil im Kindergarten Englisch gesprochen wird oder weil dort Chemie-Experimente gemacht werden? Dass Kleinkinder, die im Sandkasten darauf konditioniert werden, ihr Schäufelchen zu teilen, später besonders faire Bürger sind? Stimmt das denn?
Und jetzt ist auch noch die chinesische Welle auf dem Erziehungsmarkt aufgeschlagen. Mit den Pisa-Erfolgen aus Shanghai im Rücken stürmt Amy Chuas Buch Die Mutter des Erfolgs um die Welt. »Kinder wollen von sich selbst aus niemals arbeiten. Deshalb ist es entscheidend, sich über ihre Vorlieben hinwegzusetzen. « Und zwar total. – Das Wort »atomare Kriegsführung«, mit dem Frau Chua ihre Art der Erziehung beschreibt, klingt zwar nicht nett, für einen Sprung auf die Bestsellerlisten reicht es aber allemal. Wo so viele Einsen geschrieben werden, muss man ja wohl etwas richtig machen, oder? Das sieht auch Thilo Sarrazin so, er empfiehlt, sich die »positiven Wirkungen« der chinesischen Erziehungsmethode anzusehen – in der Erziehungsdebatte kann man auch als Finanzexperte eine gute Figur machen.
Das ist das Umfeld, in dem heutige Eltern ihre Kinder großziehen: Jeder behauptet etwas über Kinder, was ihm in den Kram
passt. Jede Theorie findet eine gläubige Anhängerschaft – und jede Theorie (und sei sie noch so verquer) kommt garantiert einmal wieder.
Luftschlösser, schlüsselfertig
Das Wirrwarr geht schon gleich nach der Geburt los: Wie viel Nähe braucht so ein kleiner Mensch? Nur nicht zu viel, sagen die einen – der kleine Mensch könnte verwöhnt werden! Niemals genug, sagen die anderen, eine sichere Bindung schafft Vertrauen für das ganze Leben! Wenn es ums Schlafen geht, dieselbe Pein. Gehört das Kleine an die Seite der Mutter? Oder ein ganzes Stück weg von ihr ins eigene Bett – damit es schneller selbstständig wird? Kann man es in eine Krippe geben – oder widerspricht das seinen natürlichen Bedürfnissen? Und wenn es dann in den Kindergarten kommt, soll da eher das Spielen im Mittelpunkt stehen – oder der Zahlenraum erweitert werden? In der Schule: mehr Drill oder mehr Selbstfindung?
Wohin die Mehrheitsmeinung geht, ändert sich wie die Saumlänge in der Mode. Natürlich brauchen Kinder Pünktlichkeit, frühe Sauberkeitserziehung und Füttern nach der Uhr – so die Überzeugung unserer Großeltern. Für die meisten unserer Eltern war es genauso natürlich, dass sie dies eben nicht brauchen. Dass Kinder früh schon »Förderung« bekommen sollen, war mit dem Ende der 1990er-Jahre plötzlich ganz fest in den Köpfen verankert – so fest, dass aus den Kinderzimmern der Republik auf einmal Mozart erklang, weil diese Musik dem wachsenden Gehirn angeblich ein paar zusätzliche IQ-Punkte abquetschen kann. Und auch das mit den »Grenzen« war auf einmal wieder ausgemachte Sache: Kindern fehlt es an Grenzen. Sicher ?
Sicher ist nur eines: Erziehung ist eine wunderbare Spielwiese für Spekulanten. Ihre Annahmen
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