Die langen Schatten der Erleuchtung
die Piazza und riss das letzte sommermüde Laub von den Platanen, um es den beiden in einem wilden Tanz hinterher zu wirbeln.
An einem der vielen Fensterplätze der Kneipe zeigte ein junger Mann mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Piazza. Seine Liebste presste ihre Nase ans Fenster und starrte ungläubig ins Dunkle. Sie winkten die anderen Gäste herbei: „Schaut mal die beiden Chaoten – was die für ´ne geile Sohle aufs Parkett legen!“
Wie zwei wirbelnde Derwische drehten sich Gary und Hanif immer schneller in einem furiosen Finale aufeinander zu, bis sie sich in die Arme fielen und einander ekstatisch lachend ansahen, als hätten sie zum allerersten Male erkannt: DAS BIN ICH. Wahnsinnig? Erleuchtet? Aber was soll´s?! In der Kneipe wurde wild geklatscht und gejohlt: „Zugabe! Zugabe!“
Ich weiß nicht, was ich bin; ich bin nicht, was ich weiß;
Ein Ding und nit ein Ding, ein Stüpfchen und ein Kreis.
Angelus Silesius
Die Fackeln der Erleuchtung
Egon Maltzahn: Er sitzt glatzköpfig in Unterhose auf der Couch im Wohnzimmer seines Bungalows. Sein Toupet liegt auf der Sessellehne. Er ist stark angetrunken, sein Blick ist glasig und stierig. Auf dem Marmortisch vor ihm steht eine zu dreiviertel geleerte Flasche Kräuterlikör. Daneben liegen mehrere leere Bierdosen. Der Aschenbecher quillt über. Der Fernseher läuft ohne Ton.
„…ich sollte nicht so viel trinken, wirklich nicht! Aber einen kann ich noch...... Ist ja auch wirklich eine Scheiße mit mir. Eine Sauerei ist das! Jahrzehntelang habe ich die Knochen hingehalten für diese verdammte Scheißfirma, und dann so einen Rausschmiss! Ich bin völlig fertig, wie damals, als Dieter mich verlassen hat. Zum Glück geht mir Elvira mit ihrer Pendelei und ihrem esoterischen Gezicke jetzt nicht mehr auf die Nerven. Seitdem sie mit diesem beknackten Guru auf Mahnkes Feier zusammen ist, - diesem Gotti - den hätte ich in meiner Hauptabteilung noch nicht mal die Post sortieren lassen - lässt sie mich damit wenigstens in Ruhe. Sie weiht sich jetzt ganz Gottis Erleuchtung! Ha, dass ich nicht lache… Ja, das glaube ich gerne, dass er ihr was heimleuchtet! Soll mir aber recht sein! - … eine neue Anstellung bekomme ich sowieso nicht mehr, das kann ich mir abschminken. Ich habe ja selber niemanden über 45 eingestellt. Alt sind wir ja selber, habe ich immer gesagt! Hahaha! Schon gar nicht mit meinen Bezügen. …vielleicht etwas Ehrenamtliches in der Gemeinde, da ließe sich für mich vielleicht etwas machen. Ach, ich weiß nicht! Aber den ganzen Tag nur saufen ist auch nicht das Wahre! Aber einen brauche ich noch! …Hobbys habe ich auch keine. Hatte ich ja auch während meines Berufslebens keine Zeit dafür. Bei meinem Arbeitstag. Soll ich etwa jetzt damit anfangen? Aquarium vielleicht? Oder im Schrebergarten grillen? Briefmarken tauschen? Wandern mit agilen Greisen …vielleicht sollte ich verreisen!? Nach Playa de Ingles, da gibt es genügend tolle Jungs! Nein, das kann ich bei Helmut nicht riskieren. Der hat neulich schon drauf angespielt, dass ich langsam alt werde. Den hält wohl auch nur mein Geld noch bei der Stange! … oder soll ich mich von Elvira scheiden lassen und Helmut heiraten? Kann ich jetzt ja machen, wo ich nicht mehr arbeite. Ich höre sie schon in der Firma: „Habt ihr schon das Neueste gehört: Maltzahn, die alte Schwuchtel, hat noch mal geheiratet. Jetzt aber die richtige - einen Mann!“ Geld wäre ja genügend da mit der Abfindung und der Altersversorgung. Vielleicht wäre es sogar im Sinne von Elvira. … und Mahnke, diesen psychopathischen Sack… habe ich neulich getroffen. Das war mein größter Fehler, diesen Versager zu befördern und ihm auch noch das „Du“ anzubieten. Er holte gerade sein Muttchen von der Schwangerschaftsgymnastik ab. Er strahlte, als hätte er einen Farbkopierer bei einer Tombola gewonnen. Er hat sich mir gegenüber aufgeführt wie ein Preisbulle, der wegen seiner dicken Eier kaum noch laufen kann. Hat mir auf die Schulter geschlagen und gesagt: „Das wird schon wieder, Egon, schau mich an!“ Ich hätte kotzen können. Einen muss ich noch trinken......Und ich muss mir ein neues Toupet zulegen, mein´s sieht ja aus wie ein Feudel, verdammt...“
Gary: Augenblick für Augenblick surft er auf den Wogen der Zeit. Unvorhersagbar wie Wind und Wolken taucht er an den Gestaden der Hamburger Szenewelt auf. Er trägt jetzt karierte Golfhosen, knallige T-Shirts, bunte Hawaiihemden oder
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