Die langen Schatten der Erleuchtung
verlangt. So erleuchtet bin ich nun allemal. Ich will ja schließlich nicht so wie ihr Göttergatte enden. …vielleicht sollte ich ´ne Zeit in den Süden gehen. Und ein Buch schreiben. Über Erleuchtung, das Zeug dazu habe ich allemal! Keine schlechte Idee. Und Elvira wäre ich auch für ´ne Zeit los…“
Hanif: Er hat nach der Mittagspause seine Kollegen auf dem Friedhof verlassen und ist zu Käthchens Grab gegangen. Er macht ihr Grab winterfest und deckt es mit Tannenzweigen ab. Dann stellt er ein Grablicht auf. Nach einer Weile nimmt er das Grablicht wieder in die Hand und zündet sich daran eine Zigarette an. Nach ein paar Zügen setzt er sich auf die kleine Bank, holt aus der Seitentasche seiner Gärtnerhose eine Dose Bier und reißt sie mit einem Knall auf. Er nimmt einen kräftigen Schluck:
„...ach, Käthchen! Wir vermissen dich alle! Der Kühlschrank will gar nicht mehr leer werden! Manchmal werden die Lebensmittel sogar schlecht! Unvorstellbar, als du noch bei uns warst. Das Haushaltsgeld ist zwar für alle gesenkt worden, aber das ist ein schlechter Tausch gegen dich! Ob ich meine Einfachheit habe retten können…? Ach, Einfachheit ist ohne Bedeutung, wenn hinter ihr die Begierde wie auf dem Sprung lauert. Diese Gier hat unser Leben bestimmt, nicht Käthchen? Dich hat deine Gier sogar in den Tod getrieben, meine Liebe! Und mich? Bis zur Schande meiner Enkeltochter Rani. Doch es ist auch meine Schande! In erster Linie sogar, denn es ist die Schande meines Verlangens. Aber jetzt sehe ich alle Frauen an wie meine Enkeltochter Rani, die es zu beschützen gilt. Du meinst, ich übertreibe jetzt, Käthchen? Ja, da hast du Recht! Aber ich bin auch alt geworden, es ist bei mir in letzter Zeit mehr Wollen als Können gewesen. Es ist kein Verdienst, das stimmt. Wahrscheinlich fällt mir die Erleuchtung wie eine Frucht in den Schoß. Ich bin reif dafür. Mein Weg der Worte geht hier zu Ende…..“
Spuren
Harald war wieder zur üblichen Zeit ohne Wecker aufgewacht. In alter Gewohnheit stand er auf und trat ans Fenster. Seit Marlies mit den Zwillingen schwanger ging, lag sie beim Schlafen nicht mehr auf dem Bauch, sondern auf der rechten Seite. Sie atmete ruhig und gleichmäßig im Schlaf. Harald schob die Gardine ein wenig beiseite und schaute nach draußen. Wie angekündigt waren abends noch die ersten Flocken gefallen, die sich über Nacht zu einem wilden Schneegestöber ausgeweitet hatten. Der Garten lag nun versteckt unter einer Schneedecke. Die Verkehrsgeräusche des anbrechenden Tages klangen wie erstickt von der Hauptstraße herüber. Von der angelehnten Verandatür führten Fußspuren durch den Garten zur Pforte.
Das Licht der Straßenlaterne fiel funzelig auf die freie Fläche des Rasens. Dort hatte jemand in ungelenker Schrift in den Schnee geschrieben:
„ Wir sind unheilbar am Leben erkrankt. Und all unsere Handlungen haben nur einen Sinn: uns wohl zu fühlen! “
Für den Vormittag war Tauwetter angekündigt.
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