Die langen Schatten der Erleuchtung
mochte an die Sechzig sein, doch sein schelmischer Blick ließ ihn manchmal fast jugendlich erscheinen. Alles in allem, lebte Hanif Pagalparam wie ein Einsiedler. Jan und Trudi konnten sich nicht entsinnen, je Besuch bei ihm gesehen zu haben. Wenn Jan abends noch einmal mit dem Hund ausging, brannte in der Laube immer noch Licht.
Neugierig geworden, was ihr seltsamer Mieter insgeheim so trieb, arbeitete Jan in den folgenden Wochen auffällig oft an der Laube. „ Um Kleinigkeiten auszubessern !“, wie er Trudi weiterhin versicherte. In Wirklichkeit jedoch hatte er sich mit dem kauzigen Inder angefreundet und leerte mit ihm die eine oder andere Flasche. Ein Laster, das Trudi nur tolerieren konnte, wenn es außerhalb ihres puppenartigen Häuschens mit den unzähligen Kissen, Läufern, Plüschtieren, gehäkelten Tischdecken und Untersetzern stattfand.
Als Jan und Hanif eines Abends wieder einmal bei ein paar Weizenbieren in der Laube beisammen saßen, hatte Jan diesmal auch eine Flasche eisgekühlten Korn auf den Tisch gestellt und die Gläser gefüllt. „Hanif, das musst du auch mal probieren! Das nennt sich hier Beschleuniger ! Sag mal, hast du eigentlich Heimweh nach Indien?“
„Ein wenig schon“, meinte Hanif nachdenklich, nachdem er den ungewohnten Schnaps gekippt und sich kurz geschüttelt hatte, „aber das hier ist ein ganz unglaubliches Land. Ich bin immer wieder überwältigt von dieser Einrichtung, die ihr Arbeitslosigkeit nennt! Ich finde sie sehr praktisch! Schade, dass wir so etwas in Indien noch nicht kennen! Diese Arbeitslosigkeit ist wirklich etwas, was wir vom Westen übernehmen sollten. Wenn ich nach Indien zurückkehre, werde ich sie bekannt machen. Und dann das hier noch!“ Hanif riss seinen Mund weit auf und holte sein Gebiss heraus. Er legte es neben sein Bierglas vor sich auf den Tisch. „Rate mal, Jan, woher ich diese wunderbaren Zähne habe? Vom Sozialamt! Sie überhäufen einen mit Geschenken, wenn man nur fragt! Kühlschränke, Fernsehen, Brille, - was du dir nur wünschst. Wenn du mal was brauchst, Jan, musst du es mir nur sagen! Ich besorge es dir dann, ich habe sehr gute Beziehungen zum Sozialamt! So mangelt es mir an nichts. Ob Essen oder Kleidung, ich habe mehr als ich benötige, wie ich es noch nie gekannt habe. Ich bin glücklich, meinen Überfluss mit den Bettlern hier teilen zu können. Und ich habe jeden Morgen eine Münze in der Hosentasche, die ich dem gebe, der mich als erster fragt: > Hassumoalnemoark <“
Der Abend fand seinen Höhepunkt und Abschluss, als Jan und Hanif noch einmal ins Haus gingen, um Nachschub zu holen. Während Jan in den Keller stieg, wo seine Bierkiste lagerte, jagte Hanif, stimuliert durch den ungewohnten Schnaps, Trudi um den Küchentisch. Das tat der Freundschaft jedoch keinen großen Abbruch. Von da an wurde allerdings bei den weiteren Zusammenkünften der Korn von der Getränkekarte gestrichen.
Im nächsten Spätsommer verschwand Hanif so urplötzlich, wie er gekommen war. Mit allerlei Befürchtungen betrat Trudi die Laube. Doch alles war sauber und ordentlich. In einem der Schränke fand sie einen in Packpapier eingewickelten Stapel Blätter. „Hier, Jan“, meinte sie und legte ihrem Mann den Stapel auf den Wohnzimmertisch, „schau dir das mal an. Ich hätte es fast in den Papier-Container geworfen. Also, wenn du mich fragst: irgendwie verrückt!“
Jan zog aus alter Gewohnheit den Zollstock aus der Seitentasche seiner Manchesterhose und maß den Stapel aus: „Exakt 13 Zentimeter! Vielleicht 13,2!“
Nach dem Abendessen gönnte sich Jan wie immer eine Zigarre auf der Terrasse und sah sich die Blätter genauer an. Mysteriös und unbegreiflich erschienen ihm die einleitenden Hinweise auf dem Deckblatt. Als erstes fiel ihm jedoch ein fremdartiges Zeichen ins Auge. Wie er später von seinem Zahnarzt erfuhr, handelte es sich dabei um Hanifs unaussprechlichen Nachnamen - Pagalparam - in der altindischen Sprache Sanskrit und bedeutete „der höchste Verrückte, der jenseits von allem ist“.
Darunter stand in krakeligen Buchstaben:
Leuchtende Klarheit. Entspanne und sei offenen Geistes!
Menschen und körperlose Geister –
Ihr, die ihr diese bedeutungslosen Träume zu Gesicht bekommt –
fläzt euch nicht hin in liederlicher Haltung.
Vergesst euch nicht in gemeinem Gegröle
und in ausschweifenden Fieberträumen!
Möge
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