Die langen Schatten der Erleuchtung
rief Mathilda nach einer Weile, „jetzt fühle ich mich schon wieder besser! Ist es nicht wunderbar hier, Hubertus?! Hier könnte ich bleiben! Kein Wunder, dass Jojo und Hanif so zufrieden wirken!“
Hubertus tauchte prustend wieder auf. „Na ja, Mathilda, das sind hier paradiesische Zustände, weit entfernt von allen Ablenkungen und Verpflichtungen. Hier kann man das Elend der Welt leichter hinter sich lassen. Aber stelle dir mal unsere beiden Eremiten bei uns im Schanzenviertel vor! Mit all der Hektik und dem Lärm. Denk nur an die vielen Zerstreuungen und Verlockungen! Ich glaube, die hätten rasch die gleichen Probleme wie wir..... Du, Mathilda, ich habe da eine blendende Idee!“
Als Hubertus und Mathilda zur Höhle zurückkehrten, trugen beide schlichte, weiße Baumwollroben wie hinduistische Pilger. Sie hatten sich gegenseitig ihre Köpfe kahl geschoren. Während bei Hubertus das Opfer nur aus seinem Haarkranz und seinem spärlichen Vollbart bestand, hatte sich Mathilda von der Pracht ihrer langen, blonden Haare getrennt. Jojo erhob sich gerade und blickte sie lächelnd an. Sie setzten sich gemeinsam auf den Felsen, auf dem sie gestern ihre Mahlzeit eingenommen hatten.
Kurz darauf sahen sie Hanif auf dem Trampelpfad aus dem Dschungel kommen. Er trug einen Korb mit Früchten, die er im Dschungel gepflückt hatte. Irritiert blickte er auf Mathilda, die aussah, als hätte sie ein für alle Mal der Welt entsagt. Hubertus dagegen wirkte immer noch wie ein übergewichtiger Lebemann, der das Beste aus seinem Haarausfall gemacht hatte. Hanif nahm neben ihnen Platz und schnitt mit einem Messer die Früchte auf und forderte alle mit einer einladenden Geste auf, sich zu bedienen. Hubertus meinte zwischen zwei Happen:
„Es lebt sich hier gut und einfach bei euch! Mathilda und ich möchten gern einige Zeit hier verbringen, um so zu einem einfachen Leben zu finden. Und auch zu einem einfachen Denken!“ Mathilda nickte ernsthaft. „Wir“, fuhr Hubertus fort, „kommen beide aus einer Welt des Überflusses und ihrer ständigen Verführung zur Maßlosigkeit. Dort erst zeigt es sich, ob man mit seiner Einfachheit bestehen kann! Wir möchten euch beiden, Jojo und Hanif, darum einen Tausch vorschlagen. Und zwar bieten wir euch an, für die Zeit, die wir hier in dieser Höhle verbringen, in unserer Welt unsere Höhle zu bewohnen. Nun, natürlich haben wir keine richtige Höhle wie diese hier! Es handelt sich um zwei Räume in einem Haus, das wir mit Freunden bewohnen. Für alles wird gesorgt sein: Kleidung, Nahrung und auch Geld. Es wird euch an nichts mangeln, im Gegenteil! - Na, was meint ihr?“
Jojo lächelte still vor sich hin. Hanif jedoch zeigte lebhaftes Interesse, und seine dunklen Augen funkelten vergnügt und unternehmungslustig.
„Fühlt ihr euch beide stark genug, eure Einfachheit und Bedürfnislosigkeit auf die Probe zu stellen und herauszufinden, ob sie in einer Welt des Überflusses Bestand haben? Vielleicht gelangst du auf diese Weise doch noch zur Erleuchtung, Jojo! Oder sogar auch Hanif!“, grinste Hubertus.
Hanif blickte mit leuchtenden Augen zu Jojo. Jojo saß versunken da und schwieg eine ganze Weile. Dann nahm er seinen vor der Brust hängenden Orden in die rechte Hand und musterte ihn aufmerksam.
„Du hast recht, Hubertus“, meinte er dann, „unsere Einfachheit ist ein Geschenk, das wir uns in eurer Welt tatsächlich verdienen sollten!“
Über Hanifs Gesicht breitete sich ein freudiges Lächeln aus.
„Aber“, so fuhr Meister Jojo fort, „unterschätzt auch nicht die Einsamkeit und Einfachheit, die hier auf euch beide wartet. Diese Einsamkeit - ohne jegliche Ablenkung - wird euch auf euch selbst zurückwerfen. Alle Tätigkeiten und Beschäftigungen in der Welt sind eine Flucht vor diesem Zustand. Niemand von uns“, so schloss Jojo, „wird es leicht haben!“
Und so kam es, dass Jojo und Hanif wenige Tage später die Höhle verließen. Der schmächtige, weißhaarige Hanif ging voran, er trug den Rucksack mit dem aufgeschnürten Militärschlafsack, gefolgt von Jojo, der sich auf seinen knorrigen Wanderstab stützte. Unter seinem Umhang trug er einen Brustbeutel mit Travellerschecks, die Rückflugtickets von Hubertus und Mathilda, ein Empfehlungsschreiben und einen großen Geldschein aus Europa.
Als Hanif und Jojo den Trampelpfad zum Dschungel erreicht hatten, drehten sie sich noch einmal um und winkten. Mathilda und Hubertus standen am Höhleneingang und verneigten sich
Weitere Kostenlose Bücher