Die Last der Schuld
Sie würde ohne jeden Verdacht in eine Falle laufen.
Doch nichts von alledem beunruhigte Caleb so sehr wie die Eingangstür. Das windige Ding besaà ein Schloss, das er im Handumdrehen knacken konnte. Selbst ein Amateur würde mühelos hier hineinkommen. Vermutlich reichte bereits ein kräftiger WindstoÃ.
Caleb hatte nicht mal Gelegenheit zu klopfen, ehe die Tür aufflog. Lana trat entschlossen auf ihre »Herzlich willkommen«-Matte und versperrte ihm den Weg. Ein eindeutiges Zeichen, dass er keineswegs willkommen war.
»Ich bringe Ihnen nur das Geschirr zurück. Das Essen war groÃartig. Vielen Dank!«
Sie nickte widerwillig und nahm das Glas und den dreckigen Teller entgegen. »Bitte sagen Sie mir, dass Sie nicht vorhaben, die ganze Nacht da drauÃen zu verbringen.«
»Tut mir leid, aber ich habe ⦠«
»Einen Befehl. Ich weiÃ. Und ich habe jede Menge zu tun. Also halten Sie sich wenigstens irgendwo auf, wo ich Sie nicht sehen kann. Sie machen mich nervös. So bekomme ich nichts getan.« Es war die Müdigkeit in ihrer Stimme, die ihn um ein Haar klein beigeben lieÃ. Sie wirkte erschöpft, mit dunklen Rändern unter den blauen Augen und schlaff herabhängenden Schultern.
»Ich kann Sie nicht allein lassen, aber ich werde versuchen, Sie nicht weiter zu belästigen.«
»Meinetwegen«, erwiderte sie, aber es klang, als würde sie eine Art Niederlage einstecken. Er hasste es, eine starke Frau wie Lana derart in die Enge zu treiben.
Sie kehrte ihm den Rücken zu, um zurück in ihre Wohnung zu gehen, doch Caleb wusste, dass er noch eine letzte Kleinigkeit erledigen musste, ehe er sie in Ruhe lieÃe. »Darf ich mal kurz Ihr Bad benutzen?«
Er spürte, dass sie am liebsten Nein gesagt hätte, doch in ihren Augen lag erneut dieser Blick, der ihm verriet, dass sie ihn nicht leiden lassen konnte. Sie stieà einen erschöpften Seufzer aus. »Ja, natürlich.«
Lana hielt ihm die Tür auf, und er musste sie fast berühren, um sich an ihr vorbeizuschieben. Im Vorbeigehen nahm er ihren Geruch wahr, und irgendetwas in seinem Innern verkrampfte sich. Er erinnerte sich an diesen Duft â unter dem sterilen, widerlichen Gestank des Krankenhauses hatte sie ganz genauso gerochen. Nach SüÃklee und Magie, nach Frühling und Vergebung.
Der Geruch hatte ihn im vergangenen Frühjahr regelrecht verfolgt, als die Natur ringsum erblühte und er ständig den Duft des SüÃklees in die Nase bekam. Er hatte ständig an Lana gedacht, wie sie in ihrem Krankenhausbett lag, und sich insgeheim gewünscht, er hätte sie retten können.
Weit gefehlt.
Caleb verdrängte den Gedanken und lieà seinen Blick flüchtig durch die kleine Wohnung schweifen. Sie glich unzähligen anderen Mietwohnungen â weiÃe Wände, beige-graue Läufer und aufgesprungene PVC -Böden. Der überwiegende Teil der Wohnung bestand aus einer offenen Wohnküche, die durch ein Schlafzimmer und ein Badezimmer ergänzt wurde. Ein robustes, kariertes Sofa, dem ein winziger Fernseher gegenüberstand, nahm fast das gesamte Wohnzimmer ein; schwere hölzerne Bücherregale beanspruchten den Rest. Die Regalbretter bogen sich fast unter der Last unzähliger Reiseführer und dicker Wälzer über Wohltätigkeitsarbeit und Existenzgründung.
Die Wände waren mit zahlreichen Zeichnungen dekoriert, wo andere Leute Fotos aufgehängt hätten. Lanas Kunstfertigkeit war beeindruckend â jedes Motiv wirkte so lebensecht, dass sein Charakter und die Stimmung perfekt eingefangen waren. Eine etwas ältere Version von Lana â vermutlich ihre Mutter â hielt ein Neugeborenes auf dem Arm, das noch das winzige Krankenhausarmband an seinem pummeligen Ãrmchen trug. Das Gesicht der Mutter war erfüllt von Stolz, und Caleb hätte schwören können, Freudentränen auf ihren Wangen zu entdecken. Eine andere Zeichnung zeigte eine Teenagerin in FuÃballkleidung, die einen Pokal in den Händen hielt, während sie von einer Gruppe Mädchen in die Luft gehoben wurde. Ihre Begeisterung und ihr Jubel waren für immer auf ihre Lippen gebannt, und es fiel Caleb nicht schwer, sich die passenden Geräusche dazu vorzustellen. Eine andere Skizze zeigte einen Mann um die sechzig, der eine Gartenschere in der Hand hielt und einen Rosenbusch beschnitt. Die Zufriedenheit auf seinem Gesicht war beinahe
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