Die Legende
gehört, dort stand ein Mann gegen zehntausend. Ein Mann, der Berge auf den Feind schleuderte.«
»Die Sage von Druss, der Legende«, sagte Horeb und senkte die Stimme. »Die Geschichte eines Giganten, dessen Augen Tod waren und dessen Axt Schrecken bedeutete. Bleibt dicht zusammen, Kinder, und haltet euch von den Schatten fern, in denen das Böse lauert, wenn ich meine Geschichte erzähle.«
»Du Schuft!« sagte Rek. »Das hat mich immer erschreckt. Du hast ihn gekannt, nicht wahr – die Legende, meine ich?«
»Vor langer Zeit. Es heißt, er ist tot. Wenn nicht, muß er heute über sechzig sein. Wir waren in drei Feldzügen zusammen, aber ich habe nur zweimal mit ihm gesprochen. Aber einmal habe ich ihn in Aktion gesehen.«
»War er ein guter Krieger?« fragte Rek.
»Furchterregend. Es war kurz vor Skeln und der Niederlage der Unsterblichen. Eigentlich nur ein Scharmützel. Ja, er war ein sehr guter Krieger.«
»Du bist nicht gerade gut, was Einzelheiten angeht, Horeb.«
»Willst du, daß ich genauso rede wie diese anderen Idioten, die von Krieg und Tod und Morden schwatzen?«
»Nein«, antwortete Rek und trank seinen Wein aus. »Nein, das will ich bestimmt nicht. Du kennst mich doch, oder?«
»Genug, um dich zu mögen. Obwohl …«
»Obwohl was?«
»Obwohl du dich selbst nicht magst.«
»Ganz im Gegenteil«, widersprach Rek und schenkte sich nach, »ich mag mich selbst sehr wohl. Es ist nur, daß ich mich besser kenne als die meisten Leute.«
»Weißt du, Rek, manchmal glaube ich, du verlangst zuviel von dir.«
»Nein. Nein, ich verlange sehr wenig. Ich kenne meine Schwächen.«
»Mit Schwächen ist es eine komische Sache«, erwiderte Horeb. »Die meisten Leute sagen dir, daß sie ihre Schwächen kennen. Wenn man sie fragt, erzählen sie dir: ›Na ja, ich, zum Beispiel, bin zu großzügig.‹ Also komm schon, erzähl sie mir, wenn du mußt. Dafür sind Wirte ja da.«
»Na ja, ich, zum Beispiel, bin zu großzügig – besonders Wirten gegenüber.«
Horeb schüttelte den Kopf, lächelte und verfiel in Schweigen.
Zu intelligent für einen Helden, zuviel Angst für einen Feigling, dachte er. Er beobachtete, wie sein Freund das Glas leerte, es hochhob und sein in unzählige Facetten zerlegtes Gesicht betrachtete. Einen Augenblick lang glaubte Horeb, er würde es zerschmettern, so stark war der Zorn in Reks gerötetem Gesicht gewesen.
Dann stellte der Jüngere den Kelch behutsam wieder auf den Tisch.
»Ich bin kein Narr«, sagte er sanft. Er versteifte sich, als er merkte, daß er laut gesprochen hatte. »Verdammt!« sagte er. »Jetzt habe ich doch zuviel getrunken.«
»Laß mich dir auf dein Zimmer helfen«, bot Horeb an.
»Ist dort eine Kerze angezündet?« fragte Rek, leicht auf seinem Stuhl schwankend.
»Natürlich.«
»Du wirst sie nicht verlöschen lassen, nicht wahr? Bin nicht versessen auf die Dunkelheit. Ich habe keine Angst, verstehst du? Ich mag sie nur nicht.«
»Ich werde die Kerze nicht verlöschen lassen, Rek. Vertrau mir.«
»Ich vertraue dir. Ich habe dich gerettet, nicht wahr? Weißt du noch?«
»Ja, natürlich weiß ich das noch. Gib mir deinen Arm. Ich bringe dich die Treppen hinauf. Hier lang. So ist es gut. Ein Fuß vor den anderen. Gut!«
»Ich habe nicht gezögert. Direkt hinein, mit erhobenem Schwert, nicht wahr?«
»Ja.«
»Nein. Das stimmt nicht. Ich habe zwei Minuten zitternd dagestanden. Und du bist verwundet worden.«
»Aber du bist gekommen, Rek. Verstehst du das nicht? Die Verwundung spielt keine Rolle – du hast mich jedenfalls gerettet.«
»Für mich spielt es eine Rolle. Ist in meinem Zimmer eine Kerze?«
Hinter ihm lag grau und finster die Festung, umrissen von Rauch und Flammen. Der Schlachtlärm erfüllte seine Ohren. Er rannte; sein Herz klopfte, und sein Atem ging stoßweise. Er warf einen Blick zurück. Die Festung war nahe, näher, als sie vorher gewesen war. Vor ihm lagen die grünen Hügel, welche die sentrische Ebene schützten. Sie schimmerten und wichen vor ihm zurück, verhöhnten ihn mit ihrer Ruhe. Er lief schneller. Ein Schatten fiel über ihn. Die Tore der Festung öffneten sich. Er wehrte sich gegen die Kraft, die ihn zurückzog. Er schrie und bettelte. Doch die Tore schlossen sich, und er war wieder mitten in der Schlacht, ein blutiges Schwert in der zitternden Hand.
Er erwachte, die Augen weit aufgerissen, die Nasenflügel gebläht. Ein Schrei wollte sich seiner Lunge entringen. Eine zarte Hand streichelte sein Gesicht,
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