Die Legende
Siehst du, wie es mich anschaut?«
»Sein Vater war das schnellste Pferd in Drenan und seine Mutter ein Schlachtroß von Wundwebers Lanzenträgern. Du könntest dir keinen besseren Stammbaum wünschen.«
»Wie heißt es?« fragte Rek, noch nicht überzeugt.
»Ulan«, antwortete Horeb.
»Kein übler Name. Ulan … na ja, vielleicht, nur vielleicht.«
»Narzisse ist soweit, Herr«, sagte der Bursche und zog sich rasch von dem Pferd zurück. Das Tier schwang den Kopf herum und schnappte nach dem Jungen, der stolperte und fiel.
»Narzisse?« fragte Rek. »Du hast mir ein Pferd gekauft, das Narzisse heißt?«
»Was ist schon ein Name, Rek?« meinte Horeb unschuldig. »Nenn es, wie du willst. Du mußt zugeben, es ist ein schönes Tier.«
»Wenn ich nicht ein feines Gespür für das Lächerliche hätte, würde ich ihm einen Maulkorb anlegen. Wo sind die Mädchen?«
»Zu beschäftigt, um einem Tagedieb wie dir nachzuwinken, der nur selten seine Rechnung bezahlt. Und jetzt ab mit dir!«
Rek ging vorsichtig auf den Wallach zu und redete dabei leise auf ihn ein. Das Pferd warf ihm einen unheilvollen Blick zu, erlaubte ihm aber, daß er sich in den Sattel schwang. Er nahm die Zügel, richtete seinen blauen Umhang, so daß er genau im richtigen Winkel über den Rücken des Pferdes fiel, und lenkte das Tier zum Tor.
»Ach, Rek, ich hätte fast vergessen …«, rief Horeb und eilte ins Haus. »Warte einen Moment!« Der untersetzte Wirt verschwand, um Sekunden später mit einem kurzen Bogen aus Horn und Ulmenholz sowie einem Köcher mit schwarzschäftigen Pfeilen wieder aufzutauchen. »Hier. Ein Gast hat dies vor einigen Monaten als Teilzahlung zurückgelassen. Sieht wie eine gute Waffe aus.«
»Wunderbar«, sagte Rek. »Ich war mal ein guter Bogenschütze.«
»Ja«, bestätigte Horeb. »Aber wenn du den Bogen benutzt, dann denk daran, daß das spitze Ende des Pfeiles von dir wegzeigen muß. Und jetzt verschwinde – und paß auf dich auf.«
»Danke, Horeb. Du auch. Und vergiß nicht, was ich über die Kerzen gesagt habe.«
»Bestimmt nicht. Mach dich auf den Weg, Junge. Und viel Glück.«
Rek ritt durch das Südtor, an dem der Wächter gerade die Laternendochte beschnitt. Die Schatten der Morgendämmerung wurden in den Straßen von Drenan kürzer, und kleine Kinder spielten unter dem Fallgitter. Er hatte die Südroute aus dem offensichtlichsten aller Gründe gewählt. Die Nadir kamen von Norden her anmarschiert, und der schnellste Weg von einer Schlacht weg lag genau in Gegenrichtung.
Er stieß dem Wallach die Fersen in die Flanken und eilte südwärts. Zu seiner Linken stieg die aufgehende Sonne gerade über die blauen Gipfel der Berge im Osten. Der Himmel war blau, die Vögel sangen, und hinter ihm erklangen die Geräusche der erwachenden Stadt. Aber die Sonne ging nur für die Nadir auf, wie Rek wußte. Für die Drenai war es die Dämmerung des letzten Tages.
Von einem Hügelkamm blickte er auf den Gravenwald hinab, der weiß und jungfräulich unter seiner winterlichen Schneedecke lag. Und doch war dies ein Ort der bösen Legenden, den er normalerweise gemieden hätte. Daß er sich entschloß, ihn dennoch zu betreten, bewies, daß er zweierlei wußte: einmal, daß sich die Legenden um die Taten eines lebendigen Menschen rankten, zum zweiten, daß er den Mann kannte.
Reinard.
Er und seine Bande blutdürstiger Halsabschneider hatten ihr Hauptquartier in Graven und waren eine offene, schwärende Wunde für den Handel. Karawanen wurden ausgeplündert, Pilger ermordet, Frauen vergewaltigt. Und doch konnte selbst eine Armee sie nicht aufspüren, so riesig war der Wald.
Reinard. Gezeugt von einem Höllenfürsten, geboren von einer edlen Dame von Ulalia. So erzählte er es jedenfalls. Rek hatte gehört, daß Reinards Mutter eine lentrische Hure war, sein Vater ein namenloser Seemann. Er hatte dieses Wissen allerdings nie weitergegeben – er hatte nicht, wie man so sagt, den nötigen Mumm. Und selbst wenn er ihn besessen hätte, überlegte er, hätte er ihn gewiß bald verloren. Eine Lieblingsbeschäftigung von Reinard im Umgang mit Gefangenen bestand darin, einzelne Teile von ihnen über heißen Kohlen zu rösten und sie den Unglücklichen vorzusetzen, die gleichzeitig mit ihnen gefangengenommen worden waren. Falls er auf Reinard traf, wäre es wohl das beste, ihm das Blaue vom Himmel vorzuschmeicheln. Und wenn das nichts nützte, ihm die letzten Neuigkeiten zu erzählen, ihn in Richtung der nächsten Karawane zu
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