Die Legende der Alten: Teil 1: Erwachen (German Edition)
herausschlagen. Sie versprachen beim Ball einen besonderen Unterhaltungswert.
Housts Blick blieb an einer Frau hängen, die ihm entgegen kam. Ihr Gesicht war mager, die Wangen eingefallen, das rechte Auge blau unterlaufen. Sicher ein Andenken an den letzten Streit mit ihrem Mann. Auf dem Ball würde sie nicht mehr tanzen, dafür war sie zu alt. Dennoch blieb Houst stehen, beobachtete sie, wartete. Sie kam ihm irgendwie bekannt vor. Vielleicht hatte er sie einst angeworben, vor ein paar Jahren, als sie noch in der Blüte ihrer Jugend stand. Houst überkam oft ein beklemmendes Gefühl, wenn er diesen Frauen wieder begegnete. Jene, die nach dem Ball nicht im Palast unterkamen – und das waren die meisten von ihnen – landeten wieder hier im Armenviertel. Die Frau hielt einen kleinen Jungen an der Hand, Houst erinnerte der Junge an den alten Chak. Chak war sein Mentor, ein verdienter Forscher jenseits seiner besten Jahre, der regelmäßig an den Bällen teilnahm, sich dabei aber immer derart betrank, dass er von den Mädchen nichts hatte. Die Frau blieb direkt vor Houst stehen. Verächtlich verzog sie den Mund. Plötzlich spuckte sie Houst ins Gesicht. Zwei Wachen traten nach vorn, doch Houst hielt sie zurück. Die Frau ging weiter, ohne ein Wort zu sagen. Der kleine Junge blickte sich um, während ihn seine Mutter hinter sich her zerrte. Houst wischte sich mit einem Tuch die Spucke aus dem Gesicht und schaute ihr nach, bis sie hinter der nächsten Straßenbiegung verschwand.
***
„Wie immer vertieft in ein Puzzel aus Papierschnipseln. Ich werde nie verstehen, wie Ihr euch den ganzen Tag nur mit diesen Schriften aus der Zeit der Alten beschäftigen könnt. Mich langweilt das zutiefst. Viel lieber probiere ich die technischen Gerätschaften aus, die uns die Alten hinterlassen haben. Manche davon bringen zumindest einen Nutzen“, sagte Großwesir Houst als er in das Studierzimmer seines alten Mentors Chak eintrat.
Chak blickte von seinem Schreibtisch auf, seine Brille drohte ihm jeden Augenblick von der Nasenspitze zu rutschen. Er lächelte Houst entgegen.
„Ah, mein Schüler beehrt mich wieder einmal mit einem Besuch. Seit Ihr zum Großwesir aufgestiegen seid, macht Ihr euch ziemlich rar. Keine Zeit mehr für die Forschung? Und was meine Schriften angeht, wie oft seid Ihr – zumindest früher – schon zu mir gekommen, mit der Bitte, doch einmal in ebendiesen Schriften etwas über die Funktionsweise eines Eurer ach so nützlichen Geräte herauszufinden? Es gibt also keinen Grund, derart verächtlich auf die angeblich langweiligen Aufzeichnungen der Alten herab zu schauen. Sicher, sie erwachen nicht plötzlich zum Leben wie so manch eines der Geräte, aber ohne sie würde doch keiner von Euch Praktikern auch nur die einfachste dieser Maschinen verstehen. Im Übrigen habe ich eben einen sehr interessanten Artikel fertig übersetzt. Wollt Ihr ihn lesen?“, sagte Chak.
„Nun, Ihr lasst mich ja doch nicht wieder gehen, bevor ich diesen Artikel nicht gelesen habe. Also zeigt her“, entgegnete Houst und ging zu dem älteren Mann hinüber.
Angesichts der immer größer werdenden Energieknappheit plant die Europäische Weltraumorganisation ESA, in Zusammenarbeit mit einem Konsortium der größten europäischen Energiekonzerne, die Entwicklung und den Bau eines im Orbit stationierten Sonnenkraftwerks. Das Kraftwerk soll die gigantische Leistung von 10 TW haben, mehr als genug Energie, um ganz Europa mit Strom zu versorgen. Allein die Größe der Basisstation stellt alle bisherigen Raumstationen in den Schatten. Riesige Sonnensegel werden die Energie der Sonne 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr einsammeln, ohne jemals von Wolken verdeckt zu werden. Befürchtungen, die Sonnensegel könnten die Sonneneinstrahlung auf der Erde verringern und so das Klima beeinflussen, entkräften die Wissenschaftler. Die Sonnensegel werden stets neben der Erde stehen, also nie ihren Schatten auf die Erde werfen, so heißt es in der Mitteilung der ESA. Wann das Kraftwerk fertig sein soll, steht noch nicht fest, ebenso wenig die Kosten. Angesichts der derzeit extrem hohen Strompreise, gehen die Verantwortlichen aber davon aus, dass es rentabel arbeiten wird.
Houst legte das Blatt mit dem Text zur Seite und blickte auf.
„Die Alten wollten das Licht der Sonne einfangen“, begann Chak aufgeregt, „Wenn es ihnen gelungen ist, schweben vielleicht heute noch die Geräte weit oben am Himmel. Sicher gibt es darüber noch weitere
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