Die Legende unserer Väter - Roman
sich alles. Wie viele Sitzungen wir brauchen würden? Das könne ich wirklich nicht sagen. Je nachdem, was ihr Vater wolle. Für zweihundert Seiten müsse man mit zwanzig bis fünfundzwanzig Treffen rechnen. Jedes Modul umfasse eine Stunde Gespräch, zwei Stunden Niederschrift und koste 103 Euro. Ich würde diese Summe zu Beginn der Sitzung verlangen, bevor ich mich auf ein Gespräch einließe. Zum folgenden Treffen brächte ich mit, was ich geschrieben hätte. Das lese der Kunde, korrigiere es oder segne es ab. Dann gehe es weiter. Manchmal, sagte ich, bricht der Kunde das Ganze auch ab. Weil er nicht mehr kann. Nicht mehr will. Weil das Geschriebene manchmal wehtut oder Angst macht. Weil die Idee doch nicht so gut war. Oder einfach so. Und da sitzen wir dann. Ich mit meinem Fragment, der andere mit seinem Schmerz.Solche Zwischenfälle sind aber selten. Die Leute, die zu mir kommen, haben sich das meist gut überlegt. So machen wir dann Woche für Woche mit der Arbeit weiter. Sie setzen sich wieder an den Tisch, in den Sessel, laufen im Zimmer auf und ab, die Hände im Rücken verschränkt, oder stehen reglos am Fenster, die Stirn an die Scheibe gelehnt. Sie legen ihre Fotos auf niedrige Tische, nehmen Porträts von den Wänden, durchwühlen Wohnzimmerschränke, öffnen Briefumschläge, entfalten zerfetzte Briefe, zeigen mir ihre Tagebücher, stoßen auf verloren geglaubte Gegenstände. Manchmal weinen sie auch. Und ich muss Distanz bewahren. Ein einziges Mal habe ich einen Vertrag gebrochen. Und meiner Klientin nach zwei Sitzungen gesagt, dass sie nichts mehr aufschlagen, suchen, umdrehen oder durchwühlen soll. Weil es zu schrecklich ist. Zu schwer. Zu gefährlich. Dass wir es damit bewenden lassen sollten. Und dass sie Hilfe brauche.
Lupuline war Linkshänderin, hielt den Füller streng senkrecht. Dann klappte sie ihren Kalender zu. Sah mich einen Moment lang an. Sie wolle etwas von mir lesen. Ob sie sich etwas mitnehmen dürfe? Eine Biographie vielleicht? Ich war gerade mit »Platanenhochzeit« fertig geworden, dem Leben von Renée und René, einem belgischen Bauernpaar im Ruhestand, das seit 61 Jahren verheiratet war. Das Buch war für ihre Familie gedacht, zwei Exemplare hatten sie mir geschenkt. Eines für mein Archiv, das zweite zum Dank. »Dem Biographen Frémaux Marcel, der so gut und respektvoll von unserem Leben berichtet«, hatte Renée auf das Vorsatzblatt geschrieben, und René hatte einfach seinen Namen daruntergesetzt. Lupuline schlug das Buch auf und lächelte, als sie die Widmung sah. Sie hatte ihren Mantel nicht abgelegt und dieganze Zeit so dagesessen, zugeknöpft bis zum Hals. Es war November. Ein grauer Regen prasselte ans Fenster. Ich begleitete sie zur Tür. Sie zog die Handschuhe wieder an und sagte, sie wolle Samstag beim Essen mit ihrem Vater sprechen.
»Geben Sie mir noch eine Woche?«
Eine Woche oder einen Monat, ganz wie sie wolle. Es dränge ja nicht. Sie solle sich ruhig die Zeit nehmen, die sie brauche, um den alten Mann zu überzeugen.
Der Dezember kam, dann der Schnee, dann Weihnachten. Eine Woche nach ihrem Besuch hatte Lupuline Beuzaboc mir die »Platanenhochzeit« in den Briefkasten gesteckt, in einem Umschlag mit der Mitteilung: »Mein Vater überlegt noch.« Es gab keinen neuen Termin. Keine weitere Nachricht. Ich musste an meinen Vater denken. Wahrscheinlich gehörten Beuzaboc und er zu dieser Art Männer, dachte ich. Warum wollte man ihr Gedächtnis strapazieren? Warum verlangte man Rechenschaft von ihnen, jetzt, nach so vielen Jahren? Sie hatten getan, was getan werden musste, Punkt, Ende.
Ich wunderte mich also nicht und war auch nicht überrascht. Nur enttäuscht. Lupuline beschäftigte mich, und die Geschichte ihres Vaters erinnerte mich an meinen. Ich hätte gern ein paar Stunden mit ihrem alten Herrn verbracht. Ich hatte noch nie das Leben eines Widerstandskämpfers aufgeschrieben. Mein Vater war tot. Und mit ihm war mein Anteil am Stolz gestorben. Diese Spur der Geschichte fehlte mir.
Zu Weihnachten schmückte ich eine Zimmerpflanze mit einer farbigen Kugel und einer Goldgirlande. Meine Mutter hatte das immer so gemacht. Bei uns zu Hause gab es keinen Tannenbaum. »Denen geht’s da, wo sie sind, viel besser«, hatte mein Vater gegrummelt.
Dann schenkte ich mir einen Filmabend. Seit jeher liebte ich das Dunkel der Kinosäle zur Zeit der Feste. Es gibt nichts Kostbareres als diese einsame Mitternacht, die Ruhe eines Films, wenn draußen das neue Jahr gefeiert
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