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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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wird.
    Ich bin allein. Lucas hat unsere Mutter nicht überlebt. Er wurde vor fünf Jahren von einem Auto überfahren. Der Fahrer war nicht zu schnell unterwegs und hatte auch nichts getrunken. Er schwor, mein Bruder habe sich vor seinen Wagen geworfen. Ich bin allein, und es gefällt mir. Ich muss nicht sprechen, kann stundenlang, tagelang schweigen. Ich muss nicht ausgehen. Kann zu Hause bleiben, hinter verschlossenen Fenstern und Türen, lesen oder nichts tun. Ich habe keine Angst vor der Stille. Oder meinen Atem zu hören. Ich habe keine Erwartungen. Ich vertreibe mir die Zeit. Wenn ich meine Zimmerpflanze schmücke, sehe ich das Lächeln meiner Mutter vor mir. »Nicht so!«, sagt sie dann und drapiert die Girlande hübscher auf den Zweigen. Ich höre sie lachen, singen. Manchmal rieche ich sogar ihr Parfum, und das genügt mir. Der Duft von dunklem Tabak und die Stimme meines Vaters. Heute sehe ich keine Pfeife mehr auf der Straße. Keinen Fackelzug, keine Fahnen. Er ist rechtzeitig gegangen, bevor er vertrieben wurde. Und ich bewahre den Atem von Lucas in meinem Gedächtnis. Seine seltsamen Schreie, sein tastendes Lächeln. Von einem Hund ließ er sich helfen, einem blonden Labrador Retriever namens Fernand. »Monsieur Fernand«, wie er ihn nannte. Bevor Lucas von dem Auto überfahren wurde, hatte er Fernand auf dem Gehsteig angeleint, das Geschirr an einer Absperrung befestigt.Der Hund wehrte sich und jaulte. Er wusste, dass mein Bruder sterben würde. Die Polizei band ihn los.
    Lange lag das schwarze Notizbuch mit dem Namen »Beuzaboc« auf meinem Schreibtisch, an den Sockel der Lampe gelehnt. Eines Abends las ich noch einmal den ersten Satz, »Sagt, sie ist verwirrt«, und verstaute es in dem Karton mit ein paar anderen missglückten Begegnungen ganz oben im Regal. Das war im Mai 2003, Lupuline hatte sich nicht mehr gemeldet.

4
    In der ersten Juniwoche sah ich Lupuline wieder. Sie kam mir in der Rue de Béthune entgegen, Arm in Arm mit ihrem Vater, an den Füßen rote Römersandalen mit schmalen, gekreuzten Bändern. Er stützte sich auf einen krummen Stock. Ich hatte sie schon von weitem gesehen. Und ihn wiedererkannt. Er war es wirklich. Der große Mann, der sich bei den Gräbern herumgedrückt hatte. Er sprach auf sie ein, zu ihr geneigt, und sie nickte. Ich schaute zu Boden. Scheute mich, ihren Blicken zu begegnen. Sie streiften mich fast in der samstäglichen Menge. Der Stock war aus brauner Kastanie. Tief und regelmäßig schlug er am Boden auf. Veteranen berühren mich immer. Der da war schön. Das Wort »beeindruckend« lag mir auf der Zunge. Ein großer, massiger Mann, kaum gebeugt vom Alter. Das Gesicht gefurcht wie Eichenrinde. Helle Augen und ein Wust weißer Haare. Er rauchte. Als sie vorbeigegangen waren, drehte ich mich nach ihnen um. Beobachtete Lupuline und ihren Vater. Der alte Mann hinkte. Er zog das linke Bein nach. Sie blieben kurz stehen. Jetzt redete sie. Er sah sie an und klopfte mit dem Stock auf das Pflaster. Dann gingen sie weiter.
    Mir lief ein Schauer über den Rücken.
    Ich nahm mein Notizbuch heraus. Ich habe immer einesbei mir, Journalistenmanie. Als Reporter hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, Fakten von Eindrücken zu trennen. Wenn ich den neuen Dorflehrer interviewte, notierte ich seine Antworten auf der rechten Seite. Auf der linken Seite beschrieb ich den Blick, die Nervosität, die Ängstlichkeit des jungen Mannes, die etwas zu kurze Samthose, den blaugestreiften Pulli, die abstehenden Haare, die große Brille. Ich verwendete das nicht, um die Spalte mit der Überschrift »Unser neuer Lehrer kommt aus der Bretagne« zu füllen. Ich wusste aber, dass die Samthose, die Brille, der Blick mir anderswo helfen würden. Dass diese Beobachtungen Seite für Seite ein Spektrum der Menschheit abbildeten. Und dass ich das einmal brauchen könnte, später, wenn meine Worte zu etwas anderem taugen müssten als Zeitungsphrasen.
    Ich lehnte mich an eine Wand und schlug mein Notizbuch auf. Ich muss immer gleich auf der Stelle schreiben. Damit mir kein Taumel verlorengeht. Auf die linke Seite schreibe ich Dinge wie »alte Ulme im Winter«, »überempfindliche Person, erschrocken vom Straßenlärm«, »die bleiche Morgenröte, die das Gesicht wächsern tönt«. Wendungen, die sich von da und dort eingeschlichen hatten und ihrem Auftritt entgegenschlummerten. Auf die rechte Seite schrieb ich: »Lupuline und ihren Vater getroffen, Rue de Béthune, Dienstag, 4. Juni 2003.« Und nur einen

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