Wildnis
Wie alles begann
Die farbigen Lichtstrahlen wanderten über das Gewirr applaudierender Hände, kreisten um die Bühne und bündelten sich auf Michael. Ein letzter Hüftschwung, dann ließ er das Mikrofon sinken und verbeugte sich vor dem Publikum.
„Nimm mich!“, schrie eine überdrehte Stimme.
„Nimm lieber ein Bier!“ Das musste Greg gewesen sein, so durchdringend brüllte sonst keiner.
Die Gitarre schrubbte los, das Schlagzeug fiel ein. Michael schaute über den Saal hinweg, fuhr sich durch das halblange Haar und stimmte eine Hardrock-Ballade an. Einige der Mädchen kreischten.
Jan wandte sich abrupt ab und stieß gegen jemanden.
„Sorry“, rief Jenny und nach kurzem Zögern: „Hallo.“
„Hallo.“
„Cool, was?“
„Ja, ziemlich …“ Fast hätte er ‚cool‘ wiederholt. „Tolle Stimmung.“ Michael würde jetzt ihre Mandelaugen preisen. Jan schrie: „Ich bin froh, dass du durchgekommen bist.“
Sie schaute auf ihr Glas und presste ihre Lippen zusammen. Vor der mündlichen Prüfung, als ihr Abitur auf der Kippe stand, hatte sie in der Klasse geweint. Wie ungeschickt, das anzusprechen – doch sie brach rasch das peinliche Schweigen: „Was machst du eigentlich danach?“ Er las es halb von ihren Lippen ab.
„Germanistik.“
Sie nickte, hatte ihn aber offensichtlich nicht verstanden. Ohne den Blick zu senken, drehte sie ihre Armbanduhr zur Mitte ihres schmalen Handgelenks. Weißes Leder auf heller Haut. Dabei war ihr Teint eine Spur dunkler als der der meisten Mädchen, doch hell für eine Asiatin. Er musste immer an ummauerte Höfe denken, an winzige, verschachtelte Gärten ... Unter der Seide ihres Kleides begann eine verborgene Welt.
Greg kam mit drei Weizen an ihnen vorbei. Er rief ihr etwas ins Ohr, sie folgte ihm. Ein entschuldigender Blick über die Schulter und sie war in der Menge verschwunden. Jan las daraus: „Ich habe es versucht, du hast ja selbst gesehen, dass es nicht ging.“ Und sie hatte recht. Es ging wirklich nicht. Er war ein Versager: Nicht einmal auf seiner Abi-Fete im Stadtschloss, bei der trunkenen Euphorie kurz nach Mitternacht, schaffte er es dazuzugehören. Ein Versager war er, der unsichtbar sein wollte, damit ihn niemand anspräche, der gleich Reißaus nehmen würde und doch schon wusste, dass ihn die ausgelassenen Geister der Anderen weiter quälen würden. Wie elendig er war! Wieso konnte er sich nicht hineinwerfen in das Gewoge und darin verschmelzen? Warum konnte er nicht sein wie die Anderen, dafür gemacht zusammenzugehören?
Er wandte sich zum Ausgang. Trinkende umringten die wogende Tanzfläche, auf den verlassenen Stehtischen sammelten sich die leeren und halbvollen Gläser. Ein Skulpteur der späten Stunde hatte einen Bierkrug mit Jägermeisterfläschchen aufgefüllt und einen Aschenbecher darübergekippt. Was sollte er sich das länger antun? In einer halben Stunde könnte er im Bett liegen.
„Carpe noctem“, hörte er hinter sich. Michael legte ihm den Arm um die Schulter.
Jan streifte ihn ab. „Und wozu soll ich die Nacht nutzen? Um vom Rand aus zuzusehen, wie Greg mit der Dritten knutscht?“
„Die Nacht ist jung – wer weiß, was sie noch mit dir vorhat?“ Michael schien zu glauben, er könne mit seinem Überschwang Jans Verbitterung einfach hinwegspülen.
„Ich kann dir sagen, was ich mit ihr vorhabe: schlafen!“
„O.k., ich gehe auch.“
„So ein Quatsch, du willst doch nicht von der Party abhauen.“
Michael schob ihn nach draußen. Etliche Raucher blockierten den Durchgang, süßlicher Geruch hing in der Luft.
„I wanna sex you up!“ Laura trat aus der Gruppe und wickelte sich lasziv eine ihrer blondierten Strähnen um den Finger. „Singst du das noch mal für mich?“
Michael lachte. „Laura, mein Starlet, ich bewundere lieber die Sterne.“
„Das Angebot steht. Komm zu mir, wenn du mit der Psycho-Beratung fertig bist“, rief Laura ihnen nach.
„Noch ein paar Wochen feiern und die braucht eine Alkoholberatung“, murmelte Michael, während sie die Prunktreppe hinunterstiegen.
Sie folgten einem geschwungenen Kiesweg in den Park. Bäume schirmten das Licht des Schlosses ab. An einem Stamm lehnten zwei Küssende, Jan schaute auf die andere Seite, zum schimmernden Teich. Er war hin und her gerissen zwischen der Hoffnung, dass Michael ein Wunder bewirken und ihn zurück auf die Party lotsen würde, und dem Wunsch, auszureißen und die ganze Erniedrigung hinter sich zu lassen, zwischen dem Stolz, dass Michael ihn
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