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Die Legende unserer Väter - Roman

Titel: Die Legende unserer Väter - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Lippen die Spur eines Lächelns. Er stand auf. Ich schob meinen Stuhl zurück. Hob den Stock auf, der ihm vor die Füße gefallen war. Vor dem hellen Holz der Brasserie wirkte sein Gesicht kupfern. Er sagte nichts. Draußen gab er mir die Hand und ging.
    ***
    Ich ringe seit jeher um Worte. Sie sollen möglichst nah dran sein, möglichst klar, möglichst nackt. Auf dem Heimweg versuchte ich die Haut Tescelin Beuzabocs zu beschreiben. Wenn man »ledrig« und »zerfurcht« verwarf, was blieb dann? Wie beschreibt man dickes Leder, tiefe Falten, die Schrammen des Lebens? An diesem Tag suchte ich nach den treffendsten Bildern. Ich fand Formulierungen, aber es warennur Formeln. Floskeln. Standards, die mich von ihm entfernten.
    Sein Blick, seine Aufmerksamkeit, sein Händedruck hatten mir gesagt, dass er mein Klient werden würde. Und wenn er dazu bereit war, musste ich dessen würdig sein. Deshalb versuchte ich, ihn zu beschreiben. Ich hatte ein paar Einfälle für seinen Gang, seine Gestalt, sein dichtes weißes Haar. Ich näherte mich seinem strahlenden Blick, seinem verschatteten Lächeln, seinen reglosen Händen, aber nicht seiner Haut. Wie trockener Lehm, wie die Rinde eines alten Baums, wie die abgestreifte Haut eines Reptils.
    Als es dämmerte, verließ ich das Haus. Manchmal gehe ich nachts spazieren, um ein Wort zu finden. Ich schaute in den Himmel über dem großen Platz. Ein Junihimmel vor dem Gewitter. Ich fragte mich, ob ich den Himmel beschreiben könnte, ohne ein anderes Wort als »Himmel« zu benutzen. Wie beschreibt man diese Art Licht? Wie nähert man sich dem Selbstverständlichen, dem Schlichten, den flirrenden Blättern zum Beispiel? »Flirrend« zu schreiben heißt schon, sich von den Blättern zu entfernen. Blätter flirren nicht. Sie machen nicht das, was der Wind von ihnen erzählt. Sie selbst bewegen sich nicht, wiegen sich nicht, beben nicht. Sie blättern. Genau. Die Blätter blättern. Sie machen ihr eigenes Geräusch, ohne ein anderes Wort. Und der Himmel wolkt. Eines Morgens sollte mir beim Aufwachen etwas Tescelinartiges für Beuzaboc einfallen, dachte ich. Ich dürfte ihn nicht mit einem Satz von der Stange abfertigen, sondern müsste an ihm Maß nehmen und ein eigenes Wort für ihn schneidern.

    Ich hoffte, dass Lupuline wieder anrief. Das Gespräch mit ihrem Vater war zwar nicht gerade herzlich gewesen, aber auch keine Katastrophe. Ich mochte es, wie er mir zuhörte, mich ansah, mich grüßte.

6
    Ich sah Lupuline fünf Tage später wieder. Als sie mein Büro betrat, notierte ich »rote Mary Janes mit Knöchelriemchen und Blockabsatz«. Tescelin Beuzaboc hatte am Tag nach unserem Treffen im »3 Brasseurs« mit ihr telefoniert. Mich fand er »eher rührend«. Er hatte die ganze Nacht überlegt, bevor er seine Tochter anrief. Er nahm das Geschenk an. Aber er behielt sich das Recht vor, jederzeit damit aufzuhören. Die Treffen sollten bei ihm stattfinden. Einmal pro Woche, dienstags, von 16 bis 17 Uhr, und nicht mehr als fünfzehn Sitzungen. Er wollte weder gefilmt noch auf Tonband aufgenommen werden. Er bestand darauf, in meiner Gegenwart rauchen zu dürfen. Auf seine Frage nach den Kosten antwortete Lupuline, Erinnerung habe keinen Preis.
    »Du hast es so gewollt«, murmelte ihr Vater und legte auf.
    Bevor sie mein Büro verließ, wollte Lupuline unbedingt ein paar Sitzungen im Voraus bezahlen. Die erste sei gratis, sagte ich. Also stellte sie einen Scheck für die nächsten zwei aus. Sie lege Wert darauf, dass das Finanzielle geregelt sei.
    »Noch etwas, was wird die Herstellung kosten?«
    Ich hielt ihr einen einfachen Flyer hin. Für zweihundert Seiten mit fünfzehn Farbfotos, broschiert, müsste sie einschließlichLektorat durch einen Verlagsassistenten, Korrektur, Satz und Druck mit 22 Euro rechnen.
    Lupuline notierte sich alles. Dann gab sie mir die Visitenkarte ihres Vaters mit der Telefonnummer. Ich runzelte die Stirn.
    »Ghesquière?«
    »So heißen wir.«
    »Und Beuzaboc?«
    »Das wird Ihnen mein Vater erzählen«, lächelte Lupuline.
    ***
    Dienstag, den 24. Juni 2003, kam ich pünktlich um 16 Uhr zur ersten Sitzung. Der alte Mann öffnete mir, gab mir aber nicht die Hand. Er trug ein Hemd und eine Hose aus verknittertem Leinen. Auf dem Rücken waren Schweißflecken. Ohne ein Wort zu sagen, ging er, auf seinen Stock gestützt, ins Wohnzimmer und zwang mich so, die Eingangstür zu schließen und ihm zu folgen.
    Überall herrschte die Hitze. In der Stadt stand die Luft, und selbst

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