Die Legende
liebenswürdig.
»Ich habe nicht immer im Wald gelebt. Meine Familie ...« Bowman brach ab.
»Ich kenne deinen familiären Hintergrund«, sagte Rek. »Aber es wird Zeit, daß du darüber redest. Du schleppst es schon viel zu lange mit dir herum.«
»Woher weißt du von meiner Familie?«
»Serbitar hat es mir erzählt. Du weißt, er war in deinen Gedanken ... als er dir die Botschaft für Druss aufgetragen hat.«
»Ich nehme an, dann weiß es die ganze verdammte Festung, was?« rief Bowman. »Ich reise bei Tagesanbruch ab!«
»Nur Serbitar und ich kennen die Geschichte ... und die Wahrheit darüber. Aber geh, wenn du willst.«
»Die Wahrheit ist, daß ich meinen Vater und meinen Bruder getötet habe.« Bowman war kreidebleich und erregt.
»Beides Unfälle - und das weißt du genau«, widersprach Rek. »Warum mußt du dich selbst so quälen?«
»Warum? Weil ich mich über so manche Unfälle im Leben wundere. Ich frage mich, wie viele davon unseren geheimsten Wünschen entspringen. Es gab einmal einen Wettläufer - den besten, den ich je gesehen habe. Er hat sich auf die Großen Spiele vorbereitet, um dort zum erstenmal gegen die schnellsten Läufer vieler Völker anzutreten. Am Tag vor dem Rennen stürzte er und verstauchte sich den Knöchel. War das wirklich ein Unfall -oder hatte er Angst vor dem Wettstreit?«
»Das kann nur er selbst beurteilen«, sagte Rek. »Aber darin liegt das Geheimnis. Er weiß es, und du solltest es auch wissen. Serbitar hat mir erzählt, daß du mit deinem Bruder und deinem Vater auf der Jagd warst. Dein Vater war links von dir, dein Bruder rechts von dir, als du einem Hirsch ins Dickicht gefolgt bist. Vor dir raschelte etwas im Gebüsch, du hast gezielt und geschossen. Aber es war dein Vater, der unbemerkt herangekommen war. Woher solltest du es wissen?«
»Der Punkt war, daß er uns gelehrt hatte, niemals zu schießen, ehe wir das Ziel sehen können.«
»Du hast also einen Fehler gemacht. Was ist auf dieser Welt so neu daran?«
»Und mein Bruder?«
»Er sah, was du getan hattest, mißdeutete es und lief wutentbrannt auf dich zu. Du hast ihn weggestoßen, und er stürzte und schlug sich an einem Stein den Schädel ein. Du hast dir lange genug Vorwürfe gemacht. Jetzt ist es an der Zeit, dich davon zu befreien.«
»Ich habe meinen Vater und meinen Bruder nie geliebt«, sagte Bowman. »Mein Vater hat meine Mutter umgebracht. Er hat sie monatelang allein gelassen und hatte zahlreiche Geliebte. Als meine Mutter sich einen Geliebten genommen hat, ließ er ihn blenden und erschlagen ... grausam.«
»Ich weiß. Grüble nicht länger darüber nach.«
»Und mein Bruder war genau wie mein Vater.«
»Auch das weiß ich.«
»Und weißt du, was ich fühlte, als sie beide tot vor meinen Füßen lagen?«
»Ja. Du hast gejubelt.«
»Ist das nicht schrecklich?«
»Ich weiß nicht, ob du dir das mal überlegt hast, Bowman, aber denk darüber nach: Du gibst den Göttern die Schuld dafür, daß sie einen Fluch auf dich geladen haben - aber in Wirklichkeit fiel der Fluch auf die beiden Männer, die es verdienten.
Ich weiß noch nicht, ob ich wirklich an Schicksal glaube, aber es geschehen bestimmte Dinge im Leben eines Mannes, die er nicht erklären kann. Daß ich hier bin, zum Beispiel. Druss' Überzeugung, daß er hier sterben wird, weil er einen Pakt mit dem Tod geschlossen hat. Und du ... Aber ich glaube, du warst nur das Werkzeug von ... wer weiß? ... einem Gesetz für natürliche Gerechtigkeit vielleicht.
Was immer du auch von dir selbst glaubst, eins solltest du wissen: Serbitar hat in deinem Herzen geforscht und fand dort nichts Böses. Und er weiß ...«
»Mag sein«, sagte Bowman. Dann grinste er plötzlich. »Hast du bemerkt, daß Serbitar kleiner ist als ich, wenn er den Helm mit diesem Federbusch abnimmt?«
Der Raum war spartanisch eingerichtet: ein Teppich, ein Kissen und ein Stuhl, alles vor dem kleinen Fenster angeordnet, an dem der Albino stand, nackt und allein. Mondlicht überflutete seine blasse Haut, und die Nachtbrise fuhr ihm durch das Haar. Seine Schultern waren gebeugt, die Augen geschlossen. Eine Müdigkeit lastete auf ihm, wie er sie in seinem jungen Leben noch niemals verspürt hatte. Denn sie entsprang dem Geist und der Wahrheit.
Die Philosophen redeten oft davon, daß Lügen unter der Zunge saßen wie gesalzener Honig. Wie Serbitar wußte, war das nur zu wahr. Aber öfter noch war die verborgene Wahrheit schlimmer. Denn sie ließ sich im Bauch nieder und
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