Die Legenden der Vaeter
Sahne, Zucker und |17| Schnee zu Eiscreme, die sie am Sonntag zum Nachtisch servierte.
In den Erinnerungen meines Vaters wurde seine Kindheit zu einem endlos langen Ferienaufenthalt bei den Großeltern. Es war ein einziges Idyll, und ich wäre nie darauf gekommen, ihn zu fragen, warum seine Mutter Marianne in den Geschichten aus Fürstenau nur am Rande vorkam und warum von einem Vater nie die Rede war. Stattdessen bat ich ihn immer wieder, mir eine jener vielen Geschichten zu erzählen, die ich längst auswendig kannte.
Fürstenau war eine Geisterwelt, bevölkert von Menschen, von denen ich die meisten nie selbst kennengelernt habe. Eleonore zum Beispiel, die jüngere Schwester meiner Großmutter, kannte ich nur aus den Geschichten meines Vaters, bei Geburtstagen und anderen Festen im Haus meiner Großeltern war sie nicht zugegen, obwohl ihr Name gelegentlich fiel und alle sie weiterhin Lorchen nannten.
Auch an Anna, die Großmutter meines Vaters, habe ich keine Erinnerungen, nur an Arnold, ihren Mann. Er war 1977 gestorben, und die letzten Jahre seines Lebens hatte er bei seiner Tochter Marianne gelebt. Wenn wir sonntags bei ihr zu Besuch waren, saß er im Wohnzimmer in einem Schaukelstuhl, eine hellblaue Wolldecke über den Beinen. Manchmal fuhr er mir mit seiner zittrigen Hand über den Kopf, aber die meiste Zeit döste er vor sich hin. Er war weit über achtzig Jahre alt und litt an Demenz. An den Gesprächen am Kaffeetisch nahm er nicht teil, und wenn er doch einmal etwas sagte, drangen nur unzusammenhängende Worte aus seinem zahnlosen Mund.
Arnold war Jahrgang 1891. Er hatte als Minenwerfer am |18| Ersten Weltkrieg teilgenommen, und als er zurück nach Fürstenau kam, war sein Vater an der Zuckerkrankheit gestorben. Anstatt sein Studium an der Kunstgewerbeschule in Düsseldorf zu Ende zu bringen, übernahm Arnold notgedrungen die Tischlerei in Fürstenau. Mit dem Krieg müssen ihn glückliche Erinnerungen verbunden haben, denn 1939 ging er freiwillig noch einmal an die Front. Er war mit achtundvierzig Jahren bereits zu alt, um als Wehrpflichtiger eingezogen zu werden, doch er meldete sich gleich nach Kriegsausbruch von sich aus beim Wehrbezirkskommando in Osnabrück zum Einsatz.
Arnold war als Offizier mit der Wehrmacht zunächst in Frankreich und dann in Russland. Auf dem Vormarsch in Richtung Osten sah er bei Smolensk die Reste der Brücken, die Napoleon hier einst hatte über den Dnjepr bauen lassen, und an einem klaren Tag im November des Jahres 1941 waren vor ihm am Horizont die Stadtmauern von Moskau aufgetaucht, kurz bevor die deutschen Truppen von der Roten Armee zurückgedrängt wurden und bei Schnee und Eis den Rückzug antreten mussten. Arnold hatte ein Baubataillon mit Turkmenen, Afghanen und Usbeken angeführt, die auf die deutsche Seite übergelaufen waren. Aus dieser Zeit stammten seine Russischkenntnisse, die er aus dem Krieg mit nach Hause gebracht hatte und mit Hilfe der Grammatik aufrechtzuerhalten versuchte.
Für mich gab es keine Verbindung zwischen dem gebrechlichen alten Mann mit der Wolldecke auf den Knien und dem Tischler, der in jener sagenumwobenen Werkstatt gearbeitet hatte, von der mein Vater mir so oft erzählte. Nur der Name war derselbe. Wenn mein Vater von seinem Großvater sprach, nannte er ihn Atti, nicht Opa Atti, einfach |19| nur Atti. Lange Zeit hatte ich geglaubt, dass es sich um eine Kurzform von Arnold handele, denn auch die anderen Erwachsenen nannten ihn so. Erst als die makellose Oberfläche der Kindheitserinnerungen meines Vaters erste Kratzer und Schrammen bekam, verstand ich, dass dem Namen eine Verwechslung zugrunde lag. Als mein Vater sprechen lernte, nannte er seine Mutter Mutti, seine Großmutter Oma und für seinen Großvater, den Tischler Arnold, der die Rolle seines Vater eingenommen hatte, benutzte er das Wort Atti, eine kindliche Form von Vati. Korrigiert hat ihn niemand.
Die Generationen waren durcheinandergeraten. Als Kind kam mir das nicht merkwürdig vor. In der Welt von Fürstenau schien alles möglich, und wenn mein Vater von früher erzählte und die Rede auf seine Mutter kam, meine Großmutter, dann stellte ich mir Marianne nicht als erwachsene Frau vor, sondern als junges Mädchen.
Eine der Geschichten meines Vaters drehte sich um eine Konfektschachtel, die Arnold von einer seiner seltenen Geschäftsreisen mitgebracht hatte. Ein Schokoladenfabrikant im Ruhrgebiet hatte sich den Tischler aus Fürstenau empfehlen lassen, der sich
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