Die Legenden der Vaeter
auf altdeutsches Schnitzwerk verstand. Es ging um einen lukrativen Auftrag, ein Erbe aus der Zeit, als die Tischlerei in Fürstenau unter Arnolds Vater noch Kunden überall in Deutschland beliefert hatte, und als er nach Hause kam, hatte er nicht nur eine stattliche Anzahlung in der Tasche, sondern auch eine Schachtel Pralinen aus der Herstellung des Fabrikanten im Gepäck.
Das war etwas ganz Besonderes. Die Speisekammer im Keller war immer reich gefüllt, und Anna kochte mehrmals |20| in der Woche in großen Töpfen Vanillepudding, zu dem es eingeweckte Kirschen und Mirabellen gab, und an Festtagen buk sie gewaltige Buttercremetorten. Doch gekaufte Süßigkeiten waren eine Seltenheit, und Arnold hatte den flachen Karton mit dem Konfekt darum an einem sicheren Ort versteckt. Eines Abends, als mein Vater, seine Mutter und Eleonore allein zu Hause waren, machten sie sich auf die Suche. Sie rissen die Schubladen sämtlicher Kommoden und Schränke auf, bis sie sich schließlich gierig eine Handvoll Pralinen in den Mund stopfen konnten. Wenn mein Vater mir davon erzählte, wirkte es nicht, als seien Mutter, Sohn und Tante, sondern drei Geschwister durch das Haus getobt, außer Rand und Band, weil sie der elterlichen Aufsicht entkommen waren.
Selbst wenn es Streit zwischen meinem Vater und seiner Mutter gab, war es so, als würden eine ältere Schwester und ihr kleiner Bruder aneinandergeraten. Am Wochenende ging es oft hoch her, wenn in der Waschküche ein großer Kessel mit Wasser erhitzt wurde und mein Vater gebadet werden sollte. Dampfschwaden füllten den Raum, der Boden des Kessels, in dem sonst Wäsche ausgekocht wurde, war glühend heiß, und Marianne traktierte ihn so lange mit einer harten Bürste, bis er splitternackt und krebsrot vom heißen Wasser in den Garten lief und sich im hohen Gras zu verbergen suchte. Ein anderes Mal flüchtete er sich nach einer Auseinandersetzung auf das Dach der Garage und winkte seiner Mutter von oben herab triumphierend zu. Mein Vater hatte sie ausgetrickst wie ein kleiner frecher Bruder seine ältere Schwester.
Es waren Erinnerungen an harmlose Kinderspiele, zumindest kam es mir so vor. Mein Vater hatte mich zu seinem |21| Komplizen gemacht. Indem ich ihm zuhörte, half ich ihm dabei, die Illusion aufrechtzuerhalten, dass es die heile Welt seiner Kindheit tatsächlich gegeben hatte. Dass noch ein anderer, bedrohlicher Ton in diesen Geschichten mitschwang, bemerkte ich erst sehr viel später. Erst einmal kam Józef ins Spiel.
|22| I ch war sechs Jahre alt, als ich den Namen Józef Koźlik zum ersten Mal hörte. Es war an einem Sonntagabend, nach einem Besuch bei meinen Großeltern.
Mein Großvater war ein vermögender Mann. Er trug goldene Manschettenknöpfe, fuhr eine dunkelblaue Mercedes-Limousine mit holzverkleideten Armaturen, und zu dem großzügigen Anwesen, das meine Großeltern bewohnten, gehörten eine Veranda mit einer Hollywood-Schaukel und ein beheizter Swimmingpool. Ein Gärtner pflegte den Rasen, eine Hausangestellte servierte Kaffee.
Ich verbrachte den Tag vor dem Fernseher im Gästezimmer, und bevor wir am Abend wieder abfuhren, nahm mein Großvater mich beiseite und steckte mir einen Zehnmarkschein zu. Damals kam mir der Luxus, in dem meine Großeltern lebten, normal vor. Mir fiel auch nicht auf, dass mein Vater meine Großmutter mit »Mutti« ansprach, meinen Großvater dagegen immer nur bei seinem Vornamen nannte. Über die angespannte Stimmung, die nach den Besuchen bei meinen Großeltern auf der Rückfahrt zwischen meinen Eltern herrschte, machte ich mir ebenfalls keine Gedanken. Sie stritten auch an anderen Tagen.
An einem dieser Sonntage kam mein Vater abends noch einmal in mein Zimmer. Er hatte mir vorgelesen, wie jeden Abend, und eigentlich hätte ich bereits schlafen sollen. Er |23| schaltete die Lampe auf dem Nachttisch wieder an, setzte sich an mein Bett und erklärte mir, dass der Mann meiner Großmutter nicht sein leiblicher Vater sei, sondern sein Stiefvater. Mein richtiger Großvater sei ein Pole namens Józef Koźlik, der während des Krieges als Soldat nach Deutschland gekommen sei.
Es war eine abenteuerliche Geschichte mit einem unglaublichen Ende. Mein Vater erzählte mir, dass mein Großvater als junger Mann nach dem Überfall der Deutschen auf Polen sein Heimatland verlassen habe. Er sei mit falschen Papieren über die Karpaten nach Ungarn, Rumänien und Jugoslawien bis nach Griechenland geflohen und habe sich schließlich in
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