Die Leiche am Fluß
arrogant blickenden, harten blauen Augen und dem selbstzufriedenen Lächeln, mit einem raschen Blick. Es war diese Überheblichkeit, die Lewis an seinem Chef gegen den Strich ging, mehr noch als dessen Geiz und permanenter Undank. Plötzlich erfaßte ihn ein heftiger Widerwille gegen Chief Inspector Morse.
Aber das war gleich wieder vorbei. Denn Morse deutete, wieder ernst geworden, nach rechts zur Daventry Avenue und setzte hinzu, während der Wagen vor einem Wohnblock hielt:
«Wir stehen ziemlich allein auf weiter Flur, Lewis, ich und Sie. Ist Ihnen das klar? Über uns ist nicht mehr viel.»
Doch während er den Gurt löste, wurde sein Gesichtsausdruck nachdenklich.
«Nous vieillissons, n’est-ce pas?»
«Wie bitte?»
«Wir werden alle nicht jünger. Und das ist das einzige, was mir an diesem Fall Sorgen macht, alter Freund.»
Und dann lächelte er wieder, und Lewis sah es und lächelte mit, denn in diesem Moment war er mit seinem Leben überaus zufrieden.
Der Polizist vor dem Haus erbot sich, sie nach oben zu begleiten, aber Morse schüttelte den Kopf und sagte unnötig schroff: «Wenn Sie mir den Schlüssel geben, genügt das vollauf, mein Junge.»
Nur zweimal acht Stufen führten in den ersten Stock, trotzdem schnaufte Morse hörbar, als Lewis die Tür der Maisonettewohnung öffnete.
«Ja...» Morse war in Gedanken noch bei Phillotson. «Für diesen Fall wäre er so geeignet gewesen wie ein Legastheniker zum Korrekturlesen.»
«Das ist gut, Sir, sehr gut. Von Ihnen?»
Die Formulierung stammte von Strange, aber Morse hatte keine Hemmungen, sich anderer Leute Bonmots auszuleihen. Außerdem hatte Strange diesen Vergleich wahrscheinlich auch nur irgendwo gelesen.
Langsam öffnete sich die Tür zu einem neuen Fall.
Und Lewis, der durch die kleine Diele zum Tatort schritt, war gespannt, wie es hier wohl laufen würde.
Auf den ersten Blick schien der Mord an Dr. Felix McClure, eremitierter Professor am Wolsey College, Oxford, über den vor zwei Stunden Detective Chief Inspector Phillotson sechzig Minuten lang referiert hatte, kein außergewöhnlicher Fall zu sein.
Aber im Lauf der Ermittlungen hatten sich oft verwirrende, ja bizarre Aspekte ergeben, und das würde trotz Phillotsons bisheriger Ermittlungen diesmal vermutlich nicht anders sein.
In dieser Hinsicht sollte Lewis recht behalten. Welche Seelenqualen aber Morse diesmal erwarteten, konnte Lewis in diesem Moment noch nicht ahnen, und er würde wohl auch nie ganz ermessen können.
3
Mit Eifer sucht’ ich auf als junger Mann
Den Doktor und den Heiligen und hört’ mir an
Der weisen Reden viel; der Reden für und für,
Doch ob ich kam, ob ging — stets war’s dieselbe Tür. (Edward Fitzgerald, Die Rubaiyat des Omar Chayyam)
Mit dem Verkauf der acht Luxusapartments des 1989 in der Daventry Avenue erbauten Daventry Court (so hatte Phillotson seine Ausführungen begonnen) hatte man sich schwergetan. Die Immobilienpreise waren während der Rezession Anfang der neunziger Jahre immer weiter in den Keller gerutscht, so daß McClure, als er im Frühjahr 1993 die Wohnung gekauft hatte, mit einem Preis von 99 500 Pfund ein echtes Schnäppchen gemacht hatte.
McClure, zur Zeit des Mordes fast siebenundsechzig, war (wie Morse sich in Kürze selbst würde überzeugen können) auf bestialische Art und Weise erstochen worden. Das Messer hatte nach den Feststellungen des Pathologen eine ungewöhnlich breite, mehr als 12 Zentimeter lange Klinge gehabt. Eine solche Waffe allerdings hatte sich nirgends gefunden. Blut? Ja, Blut war überall. Auch an der Person des Mörders? Ja, sicher.
Mit Sicherheit Blut an seinen Schuhen (Turnschuhen?), die Spuren — besonders des rechten Fußes — ließen sich mühelos vom Tatort zur Treppe und zum Ausgang verfolgen, von dort verloren sie sich auf dem gekiesten Vorplatz. Oder war der Mörder mit einem nah beim Ausgang geparkten Wagen weggefahren? Oder mit einem Fahrrad, das er an die nächstbeste Regenrinne gekettet hatte? (Vielleicht hat er ja auch die Schuhe ausgezogen, dachte Lewis.) Trotz intensiver Suche hatte man weder auf dem Vorplatz noch seitlich am oder hinter dem Wohnblock irgendwelche Hinweise gefunden. (Außer dem an sich schon aufschlußreichen Hinweis, daß es keine Spuren gibt, dachte Morse.)
Im Haus? Ja, auch davon würde Morse sich in Kürze selbst überzeugen können. Fremde Fingerabdrücke? Praktisch keine. Und nichts sprach dafür, daß der Täter durch ein Fenster im ersten Stock in die
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