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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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anderen Leben, war Wenja Wolkow, Schüler der fünften Klasse und Pionier, auf eine
     solche Bretterbühne geklettert und hatte zu den Klängen eines alten, verstimmten Klaviers das Bürgerkriegslied »In der Ferne,
     hinterm Fluß« gesungen. Das war nicht hier in Moskau, sondern im Pionierklub von Tobolsk, in einem ganz ähnlichen alten, kleinen
     Kaufmannshaus, in einem Saal mit ebensolchen Hochöfen und Flaggen, die mit Ölfarbe auf die Wände gemalt waren.
    Er sang nur für ein einziges Mädchen, für seine Mitschülerin Tanja Kostyljowa. In das Lied legte er alles, was er fühlte,
     während er Tanjas zartes, ovales Gesicht und ihren schlanken, schutzlosen Hals betrachtete, um den sich das leuchtendrote
     seidene Pionierhalstuch wand. Die melancholische Melodie voll innerer Spannung intonierte er sehr genau, verfehlte keine einzige
     Note. Damals, vor dreißig Jahren, wußte er noch nichts über sich selbst, aber jetzt kam ihm plötzlich der Gedanke, es wäre
     besser gewesen, wenn er gleich damals, auf der knarrenden Bretterbühne, eines plötzlichen, schmerzlosen Todes gestorben wäre,
     ohne das schöne Lied zu Ende gesungen zu haben. Besser für ihn, besser für das zarte Mädchen im seidenen Halstuch und für
     viele andere …
     
    »Wenjamin Borissowitsch!« Die Stimme seiner Sekretärin rief ihn sanft aus den Gedanken.
    Geschickt rollte sie einen hohen Serviertisch ausMahagoni in den Saal, auf dem ein dicker Keramikbecher stand. Wenja haßte kleine zarte Täßchen, seinen Kaffee trank er stark
     und süß und mit einer großen Portion fettiger Sahne.
    Auf der Bühne standen bereits zwei hübsche junge Mädchen in engen hellblauen Jeans, das Duo »Butterfly«. Er hatte gar nicht
     bemerkt, wie sie hereingekommen waren. Einige Sekunden lang betrachtete er sie schweigend. Die eine war eine kesse Blondine
     mit Kurzhaarschnitt, etwas pummelig, mit schwerer weicher Brust unter dem dünnen Pullover. Die andere dagegen war eine schmächtige
     Brünette mit glattem, schulterlangem Haar. Die erste sah sehr sexy aus, wirkte aber zugleich langweilig. Die zweite war die
     interessantere, ungewöhnlichere: hohe Stirn, hochmütig geschnittene Augen, feine Hände. Da spürte man Rasse. Inna hatte vermutlich
     recht, das könnte ein erfolgreiches Gespann sein – eine dreiste, ordinäre Sexbombe und ein exquisites Adelsfräulein.
    In seinem Kopf liefen automatisch die Bilder möglicher Videoclips ab. Das könnte was werden! dachte er mit vorsichtiger Erregung
     und sagte freundlich nickend: »Fangt an, Mädels. Ohne Begleitung und Mikrofon. Vorerst. Beim ersten Lied steht ihr ganz ruhig
     da und bewegt euch nicht. Ihr singt einfach nur. Klar?«
    Sie warteten schweigend. Das Vorsingen begann er immer auf diese Weise. Er brauchte vor allem ihre Gesichter und Stimmen.
     Gestik und Bewegungen konnte man später einstudieren. Aber ganz allein mit den leeren, sinnlosen Worten, mit diesem Stuß auf
     den Lippen, war jeder Sänger nackt und schutzlos.
    Keiner seiner Kollegen und früheren Konkurrenten nahm noch solche Strapazen in Kauf. Ihr Geld machten sie nicht mit denen,
     die singen konnten, sondern mit denen, die scharf darauf waren, sich selbst oder ihre Frauen, Kinder, Geliebten in einem erstklassigen
     Clip zu sehen. Von solchenLeuten gab es mehr als genug. Nicht der Interpret, sondern das Geld, das er verkörperte, machte den Kick aus. Für genügend
     Geld konnte man selbst eine Telegrafenstange zum Hüpfen und Trällern bringen.
    Wenjamin Wolkow hatte niemals der Versuchung nachgegeben, das schnelle Geld zu machen. Um ihn herum dachten alle bei ihren
     Geschäften nur ans Heute und nicht an die Zukunft: Besser tausend sofort als eine Million in einer Woche. Bei einem Geschäft,
     das auf kriminellem Kapital beruht, gibt es keine Garantie, daß man am Ende der Woche noch am Leben ist und nicht längst an
     einem Ort, wo man keine Millionen mehr braucht.
    So war »Wenjamin« inzwischen der einzige Konzern im Showgeschäft, aus dem noch echte, seltene Stars hervorgingen. Andere machten
     aus Scheiße Pralinen, süßliche Bonbons, von denen selbst dem allesfressenden russischen Konsumenten die Zähne bröckelten und
     der Magen schmerzte. Wenjamin Wolkow scheute weder Zeit noch Kraft und fürchtete kein Risiko. Er machte Stars und setzte auf
     Stars. Ihm war klar, daß das Publikum irgendwann Lust auf Gesichter bekommen mußte, wenn auf dem Bildschirm ständig nur Hinterteile
     flimmern.
    Die Mädchen standen auf der

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