Die leichten Schritte des Wahnsinns
verflogen, und beider Zukunftspläne von einem
stolzen Singledasein lösten sich in Luft auf. Zwei reife, vernünftige, vom Leben gebeutelte Menschen hatten sich bis über
beide Ohren ineinander verliebt und wunderten sich bis heute darüber. Schon kurz nach ihrer ersten Begegnung heirateten sie,
ohne lange nachzudenken und ohne jeden Zweifel, als wollten sie die verlorene Zeit so rasch wie möglich aufholen.
Heute wußte niemand außer ihnen, daß die zweijährige Lisa Sergejewna Krotowa nicht Sergejs leibliche Tochter war, und für
die beiden war es ohne Bedeutung. Sie wunderten sich nicht einmal darüber, daß das Kind dem Vater viel mehr ähnelte als der
Mutter. Nein, nicht dem Mann, der es gezeugt hatte, sondern dem eigentlichen Vater – Sergej Krotow.
Lena hatte dunkelblondes, fast kastanienbraunes Haar und dunkle rauchgraue Augen unter schwarzen Brauen und Wimpern. Lisa
hingegen war hellblond und blauäugig, genau wie Sergej. Jetzt, mit zwei Jahren, zeigte sich, daß sie auch in Charakter und
Mimik ganz nach Sergej kam.
»Als ich dich kennenlernte«, gestand Lena einmal, »hatte ich noch meine Zweifel. Aber Lisa in meinem Bauch wußte es längst
besser. Ich habe damit gehadert, daß ich dich nicht eher getroffen habe, und Lisa hat einfach beschlossen, auf die Welt zu
kommen und dir ähnlich zu werden.«
»Klingt gut«, meinte Sergej achselzuckend, »und wem sollte unser Kind außerdem noch ähnlich sehen?«
»Ein bißchen vielleicht auch mir.«
»Kopf hoch, unser nächstes Kind sieht bestimmt aus wie du.«
Im Briefkasten fand Sergej außer ein paar Werbeprospekten für Hometrainer und Kosmetik einen dicken, länglichen Umschlag,
adressiert an »Mrs. Jelena Poljanskaja, Russia, Moscow«, abgestempelt in New York.
Briefe aus Amerika bekam Lena ziemlich häufig. In den letzten sechs Jahren war sie viermal dort gewesen; mal hatte die Columbia-Universität
sie zu Gastvorträgen eingeladen, mal das Brooklyn-College, mal das Kennan-Institut. Sie hatte Freunde und Bekannte in New
York, Washington und Boston.
Als Sergej ihr den Brief gab, öffnete sie ihn nicht einmalgleich, sondern warf ihn zerstreut auf den Kühlschrank. Sie war blaß, müde und schweigsam.
»Lena, ist etwas passiert?« fragte er und umarmte sie.
»Bei uns nicht«, erwiderte sie leise, »Lisa ist gesund, ich auch. Mach dir keine Sorgen, iß erst einmal und ruh dich aus,
dann erzähle ich dir alles.«
Während Lena das Abendessen warm machte, ging Sergej auf Zehenspitzen ins Kinderzimmer. Lisa hatte sich im Schlaf gemütlich
zusammengerollt. Er küßte sacht die warme kleine Stirn unter dem hellblonden Pony und zog die verrutschte Bettdecke zurecht.
Das Abendessen war für Sergej meist eher ein spätes Mittagessen. Bei der Arbeit schlug er sich den ganzen Tag mit belegten
Broten, Tee und Kaffee durch, zu Hause holte er dann das Versäumte nach und vertilgte sogar mitten in der Nacht ein ganzes
Menü mit Vorspeise und Hauptgang.
Lena hatte sich auf das kleine Küchensofa gehockt und las. Verwundert bemerkte Sergej, daß ein Lehrbuch der Gerichtsmedizin
vor ihr auf dem Tisch lag.
»Lena, was ist das für eine sonderbare Passion so spät nachts?«
»Sag mal, kann man am Strangulationsstreifen feststellen, ob jemand noch am Leben war oder ob man ihn zuerst getötet und dann
erhängt hat?«
»Auf den ersten Blick kann man das natürlich nicht erkennen«, sagte Sergej. »Dafür ist eine genaue Analyse des Gewebes nötig,
der Hautschicht im Bereich des Strangulationsstreifens.«
»Wird heutzutage ein Selbstmord daraufhin untersucht, ob er inszeniert ist?«
»Vielleicht erzählst du alles der Reihe nach?«
»Gut.« Lena schlug das Buch zu. »Erinnerst du dich, vor etwa einem Monat war der Bruder von Olga Sinizyna, Mitja, bei uns.
Du bist früher von der Arbeit nach Hause gekommen, und er saß noch hier in der Küche.«
»Ich erinnere mich.« Sergej nickte. »So ein Riesenbaby, er hat dich fast bewußtlos gequasselt und hat dann noch eine Kassette
mit Liedern dagelassen.«
»Er hat sich heute nacht erhängt«, sagte Lena leise. »Die Miliz, der Arzt – alle sagen, ein klarer Fall von Selbstmord. Aber
Olga glaubt das nicht. Und es ist wirklich alles sehr seltsam.«
»Tja, Selbstmord ist überhaupt eine seltsame Sache. Und die Verwandten wollen immer glauben, daß der Betreffende es nicht
selbst getan hat. Früher ist der Staatsanwalt zu jeder Leiche gefahren, heute haben wir nicht genug
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