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Die leichten Schritte des Wahnsinns

Die leichten Schritte des Wahnsinns

Titel: Die leichten Schritte des Wahnsinns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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Tannen und Birken herum.
    Das Haus war von einer mindestens zwei Meter hohen Betonmauer umgeben, die vom Fenster aus durch die Bäume verdeckt war. Unmittelbar
     an der Mauer lag etwas Dunkles im Schnee. Wassja beugte sich über den dunklen Haufen, und Lena erkannte, daß es ein Toter
     war. Wassja zog ihm die kurze Lammfelljacke aus und nahm ihm den Schal ab.
    »Zieh das an«, sagte er und half Lena in die Jacke. »Schnell! Den Schal auf den Kopf!«
    Lena, der vor Schreck ganz kalt geworden war, zog gehorsam den Reißverschluß zu und warf sich den breiten Strickschal des
     Toten über den Kopf. Der Schal roch nach Tabak und Rasierwasser. Wassja zog sie am Arm, sie rannten an der Mauer entlang.
     An einer Stelle befand sich zwischen den Betonsegmenten ein schmaler Spalt, aus dem die dicken Stangen des Stahlgerippes ragten.
    »Ich gehe zuerst, du kommst nach, paß auf, daß du nicht hängenbleibst, oben ist Stacheldraht.«
    »Steht er unter Strom?« fragte Lena.
    »Jetzt nicht mehr.« Gewandt wie eine Katze kletterte er auf die zwei Meter hohe Mauer und verschwand. Lena packte eine Stange
     und zog sich hoch. Nicht einmal als Kind war sie über Mauern geklettert. Ihr Fuß suchte nach einem Halt und rutschte über
     den Beton.
    Vom Haus her wurden Stimmen und Getrappel laut.
    »Halt, verdammt noch mal!« Das war ganz nahe. »Halt, oder ich schieße!« Sofort krachten mehrere Schüsse.
    Lena flog über die Mauer wie ein Vogel. Der Killer fing sie auf. Sie liefen im hellen Mondlicht in die Taiga, versanken im
     tiefen Schnee, stolperten über Baumwurzeln. Nur mit Mühe kamen sie voran. Hinter ihnen schoß man ununterbrochen, nicht mehr
     vom Haus, sondern bereits von der Mauer aus. Zu den Pistolenschüssen gesellte sich das Knattern von Maschinengewehren.
    Im Laufen zog Wassja ein kleines automatisches Gewehr mit kurzem Lauf aus der Brusttasche, sah sich um und feuerte eine Salve
     ab. Die Schüsse hinter ihnen verstummten für einen Augenblick. Dann ratterten sie erneut los.
    »Hinlegen!« kommandierte Wassja.
    Lena ließ sich in den Schnee fallen. Sie sah nichts mehr, hörte nur noch vereinzelte Schüsse, Maschinengewehrsalven und das
     Fluchen ihrer Verfolger. Jemand lief mit schweren Schritten durch den tiefen Schnee. Wassja feuerte verteidigend um sich.
     Lena begriff plötzlich, daß er die Banditen mit seinem Maschinengewehr der Reihe nach niedermähte, einen nach dem anderen.
     Sie wußte nicht, wie lange es dauerte. Ihr schien, als sei es eine Ewigkeit. Der Schnee war kalt, sie begann zu zittern. Die
     Haarsträhnen, die unter dem Schal herausgerutscht waren, gefroren und verwandelten sich in Eiszapfen.
    Endlich wurde es still. Sie hob den Kopf und blickte sichum. Wassja saß im Schnee und hielt sich mit der linken Hand seine rechte Schulter.
    »Das war’s«, sagte er, »gehen wir.«
    »Was hast du?« fragte sie.
    »Ein Steckschuß, nichts Schlimmes. Schüttel den Schnee ab.« Er stand auf. »Wir müssen weg, so weit wie möglich.«
    Jetzt rannten sie nicht mehr. Durch die Taiga zu rennen ist unmöglich, selbst wenn man eine Schneise findet. Es gibt keinen
     festen Boden unter den Füßen, überall lauert der Sumpf. Im Winter ist das nicht schlimm, aber mit Frühlingsbeginn wird das
     Eis dünn und brüchig, und der Sumpf der Taiga zieht einen blitzschnell in die Tiefe.
    Sie arbeiteten sich vorwärts, stiegen über die Stämme umgestürzter Bäume. Es begann zu dämmern. Lena sah, daß aus Wassjas
     rechtem Ärmel Blut sickerte.
    »Man muß das Blut zum Stillstand bringen. Komm, wir setzen uns auf einen Baumstamm, und ich sehe mir die Wunde mal an.«
    »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Wir müssen bis zur Klause.«
    »Was für eine Klause?«
    »Eine Stelle, wo die Raskolniki gelebt haben, eine alte verlassene Erdhütte.«
    »Wer soll denn noch hinter uns her sein? Du hast doch alle erschossen.«
    »Nicht alle. Wenn es hell wird, können sie mit dem Hubschrauber starten. Wir müssen noch bis zur Klause, die sieht man von
     oben nicht.«
    »Ist es noch weit bis zu deiner Klause?«
    »Mindestens zwei Stunden.«
    »Tut dir die Schulter weh?« fragte Lena.
    »Red nicht«, erwiderte er, »spar deine Kräfte.«
    Die Kräfte hatten sie schon fast verlassen. Ihre Füße rutschten auf den vereisten Baumstämmen ab. Sie fror, und vor Schwäche
     war ihr schwindlig. Sie gingen schon dreiStunden ohne Rast oder Unterbrechung. Der Killer schritt trotz seiner verletzten Schulter leicht und rasch aus. Seine kleine,
    

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