Die letzte Generation
obere beträchtlich größer war, so daß es vorsprang und das Erdgeschoß beschattete. Das Haus war in erheblichem Maße automatisiert, und die Küche erinnerte stark an die Kanzel eines Luftschiffes.
»Arme Ruby!« sagte Jean, »ihr hätte dieses Haus gefallen!«
»Soviel ich gehört habe«, erwiderte George, der keine große Sympathie für die vorige Frau Boyce hatte, »ist sie völlig glücklich mit ihrem australischen Freund.«
Das war so allgemein bekannt, daß Jean schwerlich widersprechen konnte; sie änderte also das Thema. »Sie ist auffallend hübsch, nicht wahr?«
George war klug genug, die Falle zu vermeiden. »Vermutlich«, erwiderte er gleichgültig. »Das heißt natürlich, wenn man Brünette liebt.«
»Was du, nehme ich an, nicht tust«, sagte Jean sanft.
»Sei nicht eifersüchtig, Liebling«, sagte George lachend und streichelte ihr platinblondes Haar. »Wir wollen uns die Bibliothek ansehen. In welchem Stockwerk mag sie sich wohl befinden?«
»Sie muß hier oben sein; unten ist kein Raum mehr. Außerdem paßt es zu dem allgemeinen Plan: Wohnen, Essen, Schlafen im Erdgeschoß. Hier oben ist der Teil für Unterhaltung und Spiele, obwohl ich es noch immer für eine närrische Idee halte, im ersten Stock ein Schwimmbecken anzulegen.«
»Es wird schon seinen Grund haben«, sagte George und öffnete auf gut Glück eine Tür. »Rupert muß einen fachmännischen Berater gehabt haben, als er dieses Haus baute. Ich bin überzeugt, daß er es nicht selbst gemacht hat.«
»Du hast wahrscheinlich recht. Wenn er es selbst entworfen hätte, so wären hier Zimmer ohne Türen und Treppen, die nirgendwohin führen. Tatsächlich würde ich mich scheuen, ein Haus zu betreten, das Rupert ganz allein entworfen hätte.«
»Da sind wir«, sagte George mit dem Stolz eines Seefahrers, der Land sichtet. »Die berühmte Boyce-Sammlung in ihrem neuen Heim. Ich möchte wissen, wie viele von ihnen Rupert wirklich gelesen hat.«
Die Bibliothek nahm die ganze Breite des Hauses ein, war aber mit Hilfe der großen Buchenregale in ein halbes Dutzend kleiner Räume eingeteilt. Die Regale enthielten, wenn George sich recht erinnerte, etwa fünfzehntausend Bände, fast alles von Bedeutung, was je auf den geheimnisvollen Gebieten der Magie, der psychischen Forschung, der Wahrsagerei, Gedankenübertragung und der ganzen Reihe von schwer greifbaren, in der Paraphysik zusammengefaßten Erscheinungen veröffentlicht worden war. Es war ein sehr seltsames Steckenpferd in diesem Zeitalter der Vernunft. Vermutlich war es einfach Ruperts besondere Form, sich abzuschließen.
George bemerkte im selben Augenblick, als er eintrat, den Geruch. Er war schwach, aber durchdringend, weniger unangenehm als verwirrend. Jean hatte ihn ebenfalls bemerkt; ihre Stirn hatte sich in der Anstrengung, ihn zu identifizieren, zusammengezogen. Essigsäure, dachte George. Das kommt ihm am nächsten. Aber es ist noch etwas anderes dabei …
Die Bibliothek endete in einem kleinen freien Raum, gerade groß genug für einen Tisch, zwei Stühle und einige Kissen. Hier pflegte Rupert wahrscheinlich zu lesen. Auch jetzt las hier jemand, bei unnatürlich schwacher Beleuchtung.
Jean stieß ein leises Ächzen aus und umklammerte Georges Hand. Ihr Verhalten war vielleicht entschuldbar. Es war etwas anderes, auf dem Fernsehschirm ein Bild zu sehen, als ihm in Wirklichkeit zu begegnen. George, der selten durch irgend etwas überrascht werden konnte, zeigte sich sofort der Situation gewachsen.
»Ich hoffe, wir haben Sie nicht gestört, mein Herr«, sagte er höflich. »Wir hatten keine Ahnung, daß jemand hier ist. Rupert hat uns nichts gesagt …«
Der Overlord legte das Buch nieder, sah sie prüfend an und begann dann wieder zu lesen. Es war nichts Unhöfliches in diesem Verhalten, da es sich hier um ein Wesen handelte, das gleichzeitig lesen, sprechen und wahrscheinlich noch mehrere andere Dinge tun konnte. Aber auf menschliche Beobachter wirkte dies nichtsdestoweniger beunruhigend schizophren.
»Mein Name ist Raschaverak«, sagte der Overlord liebenswürdig. »Ich fürchte, ich bin nicht sehr gesellig, aber von Ruperts Bibliothek kann man sich schwer trennen.«
Jean brachte es fertig, ein nervöses Kichern zu unterdrücken. Ihr unerwarteter Mitgast las, wie sie bemerkte, alle zwei Sekunden eine Seite. Sie zweifelte nicht daran, daß er jedes Wort in sich aufnahm, und sie fragte sich, ob er wohl mit jedem Auge ein Buch lesen könne. Und dann könnte er
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