Die letzte Lagune
Eine baùta verdeckte Stirn, Augen
und einen Teil der Nase. Hinter der rechten Augenöffnung der
Maske war ein geschlossenes Lid zu erkennen, während hinter
der linken Augenöffnung eine blutige Höhlung klaffte,
umrandet von angesengtem Stoff, so als wäre der Schuss aus
einer aufgesetzten Waffe abgegeben worden.
Als Tron in die Knie
ging, sah er, dass es einen zweiten Einschuss auf der Höhe der
Schläfe gab. Der Täter hatte durch den Papphelm
hindurchgefeuert. Vermutlich war Blut ausgetreten, aber man konnte
es nicht sehen, da der Helm die Einschusswunde an der Schläfe
verdeckte. Tron spürte plötzlich, wie sich sein Puls
beschleunigte, als er das Muster erkannte: erst der Schuss in die
Schläfe, um das Opfer außer Gefecht zu setzen, dann der
Fangschuss in ein Auge, um sicherzustellen, dass das Opfer tot war.
Wie bei Petrelli. Auch bei diesem Mord schien keine Schusswaffe mit
großem Kaliber zum Einsatz gekommen zu sein - genauso wenig
wie bei dem Anschlag auf Flyte. Tron schloss die Augen und rief
sich alle Personen ins Gedächtnis, die aus irgendeinem Grund
ihren Parkettsitz oder ihre Loge verlassen hatten, bevor etwas
geschehen war: Lime, Marchmain, Lodron, Holly und auch
Flyte.
Anstatt die Maske vom
Gesicht des Toten zu nehmen, was er im Augenblick nicht über
sich brachte, obwohl Bossi es sicherlich von ihm erwartete, zwang
Tron sich zur Ruhe und musterte den Fußboden und die Regale.
Der Boden war sauber gefegt, nichts Zerbrochenes lag auf dem
Terrazzo, auch die Flaschen auf den Regalbrettern standen
ordentlich aufgereiht nebeneinander. Einen Kampf hatte es also
nicht gegeben. Der Mörder hatte seinem Opfer aufgelauert und
ihm sofort in die Schläfe geschossen. Dann hatte er einen
zweiten Schuss in das Auge abgegeben und war verschwunden. Blieb
die Frage, auf welche Weise der Mörder sein Opfer in die
Cantina gelockt hatte - und um wen es sich bei dem Toten
handelte.
Tron gab sich einen
Ruck. Er beugte sich über den Kopf des Toten, entfernte als
Erstes den albernen Schwanenhelm und - war erleichtert. Das Opfer
hatte dichtes dunkelbraunes Haar. Um Flyte konnte es sich also
nicht handeln. Dann löste Tron vorsichtig die beiden
Bänder, mit denen die baùta vor dem Gesicht des
Toten befestigt war.
«Ohh!»,
rief Bossi unwillkürlich.
Es war nicht das erste
Mal, dass Tron in das Gesicht eines Toten blickte, dessen Leben
gewaltsam geendet hatte. Auf vielen Gesichtern hatte er
überraschenderweise einen Ausdruck des Friedens gefunden. Doch
dieses Gesicht hier war im Moment des Todes zu einer grimmigen
Maske erstarrt, und alles sprach dafür, dass der Mann in den
letzten Sekunden seines Lebens genau begriffen hatte, was mit ihm
geschah. Jedenfalls hatte Marchmain nicht lange gelitten. Der
Schuss in die Schläfe hatte ihn vermutlich nach wenigen
Sekunden bewusstlos gemacht, sodass er nichts von der
anschließenden Exekution gespürt haben konnte. Dass
andere unter seinem Tod leiden würden, bezweifelte Tron. Er
fragte sich, wer von seinem Tod profitieren würde. Und
natürlich fragte er sich, aus welchen Gründen sich
Marchmain während der Vorstellung in das Magazin der Cantina begeben
hatte.
Tron begann die
Untersuchung von Marchmains Taschen mit der Frackjacke. Niemand
trug dicke Brieftaschen in der Innentasche eines Fracks, aber Tron
fand es eigenartig, dass sich auch kein einziger loser Geldschein
in Marchmains Jacke fand. Aus der linken Hosentasche förderte
er ein Taschentuch und ein paar Münzen zutage; die rechte
Hosentasche enthielt einen Garderobenschein und einen
zusammengefalteten Programmzettel. Als er ihn umdrehte, wurde
zumindest klar, was Marchmain dazu bewogen hatte, seine Loge mitten
in der Vorstellung zu verlassen. Die handschriftliche Nachricht auf
der Rückseite bestand aus drei kurzen Zeilen.
Ich muss Sie
sprechen. Kommen Sie sofort in das Magazin der Cantina. Benutzen
Sie die Tapetentür hinter den Säulen im Foyer.
Commissario Tron.
Tron reichte das Blatt
Bossi. Der las es kurz durch und sagte: «Jedenfalls wissen
wir jetzt, warum Marchmain hier aufgetaucht ist.»
Tron nickte.
«Und dass das Billett von jemandem kam, der mit den
Verhältnissen Marchmains vertraut war. Der vor allen Dingen
wusste, dass Marchmain mit mir bekannt war.»
«Flyte?
Lime?»
Tron zuckte die
Achseln. «Vermutlich waren auch Lodron und Contarini im
Bild.»
«Wer könnte
ein Motiv haben, Marchmain zu töten?»
«Vielleicht
Flyte.»
«Wegen dieser
Erbgeschichte?», forschte Bossi.
«Möglicherweise
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