Die letzte Lagune
1
Der massige Mann in
dem weißen Gewand schloss die Augen und beugte sich über
die alten Pergamentblätter auf seinem Schreibtisch. Wieder
spürte er, wie eine Hitzewelle über sein Gesicht lief.
Die drei recto et verso beschriebenen
Bögen aus geflecktem Kalbspergament, jeder einzelne nicht
größer als zwei Hände, hatten Rom vor zwei Tagen
erreicht. Die Qualität des Pergaments, die vom Schreiber
benutzte Tinte, die Handschrift, eine reinliche, nach rechts
geneigte Bastarda -nichts wies auf eine
Fälschung hin. Diese Aufzeichnungen waren echt. Sie
würden den Lauf der Geschichte ändern.
Der Mann in dem
makellos weißen Gewand holte tief Luft, um seiner Erregung
Herr zu werden. Dann stand er auf, durchquerte sein Arbeitszimmer
und trat, immer noch schwer atmend, an eines der Nordfenster. Er
öffnete einen Fensterflügel und genoss einen Moment lang
den Schwall frischer Winterluft, der in das Zimmer strömte.
Unter seinem Fenster lagen die Ausläufer der Stadt, dahinter
der Fluss, auf dem sich ein Raddampfer stromaufwärts zum Porto
di Ripetta bewegte. Es hatte über Nacht geschneit, aber jetzt
war der Himmel klar, und am Horizont zeichnete sich der
schneebedeckte Gipfel des Soracte ab.
Nein, er hatte nie an
Zufälle geglaubt. Alles hatte seine Zeit und seinen Ort. Der
Allmächtige trieb keine üblen Scherze mit den Menschen.
Schon deshalb war auszuschließen, dass es sich um eine
Fälschung handelte. Venit hora, murmelte er. Die Zeit
war jetzt gekommen, und der Herr hatte ihm nach all den Jahren der
Demütigung ein Zeichen gesandt. Und was für ein
Zeichen!
Er schloss den
Fensterflügel und ging langsam zu seinem Schreibtisch
zurück. Den Vormittag hatte er damit verbracht, die
Aufzeichnungen wieder und wieder zu studieren. Inzwischen kannte er
den Text fast auswendig. Was mochte Zanetto Tron dazu bewogen
haben, seine Teilnahme am vierten Kreuzzug zu protokollieren? Hatte
er vorausgesehen, dass diese Blätter sechshundert Jahre
später in der Stunde höchster Not wiederauftauchen
würden? Und dass jemand begreifen würde, worum es sich
handelte? Und wie war zu erklären, dass lediglich die letzten
drei Bögen seiner Aufzeichnungen im Kloster von San Lazzaro
geblieben waren? Auf welche Weise war der größte Teil in
die Biblioteca Marciana gelangt - wo sie ausgerechnet ein
Engländer entdecken musste?
Der Mann in dem
weißen Gewand stieß einen Seufzer aus und warf einen
Blick auf die goldene Stutzuhr auf seinem Schreibtisch. In
fünf Minuten würde Monsignore Contarini die Schwelle
seines Arbeitszimmers überschreiten. Er hatte gestern
Vormittag lange mit dem Camerlengo konferiert, und der
Kämmerer hatte ihn schließlich davon überzeugt,
dass es einen besseren Mann für diesen Einsatz nicht gab.
Persönlich schätzte er Contarini nicht - es hatte immer
wieder Gerüchte über Alkohol und Frauengeschichten
gegeben.
Er stand schwer atmend
auf und trat vor den Spiegel an der Wand seines Arbeitszimmers, um
seine weiße Scheitelkappe zurechtzurücken. Dann trat er
neben seinen Schreibtisch und nahm die Haltung an, in der er seine
Besucher üblicherweise empfing: die rechte Hand mit dem
Fischerring in einer Geste des Willkommens nach vorne gestreckt,
auf den Lippen ein wohlwollendes Lächeln. Das Lächeln war
falsch. Aber die Gnade des Herrn hatte bisher stets dafür
gesorgt, dass es echt wirkte.
Einen Moment
später öffnete sich die Tür, und ein
hochgewachsener, etwa vierzigjähriger Geistlicher betrat den
Raum. Monsignore Contarini hatte scharfgeschnittene
Gesichtszüge, kühle graue Augen und die prominente Nase
der alten venezianischen Familien. Er trug einen schwarzen Talar
mit Besätzen und Säumen aus roter Moire-Seide,
darüber einen roten Schulterumhang, den Ferraiolo.
Vervollständigt wurde seine Bekleidung durch das Zingulum, die
Gürtelbinde, das Sinnbild priesterlicher
Enthaltsamkeit.
Er näherte sich
mit langsamen Schritten dem Schreibtisch, neben dem sich der Papst
postiert hatte. Dort ging er in die Knie und beugte seinen Kopf
über den Fischerring. Der Papst nahm einen Hauch von Patschuli
wahr und verzog angewidert das Gesicht.
Sie hatten zweimal
miteinander gesprochen, und auch jetzt bestätigte sich der
Eindruck der vorangegangenen Begegnungen. Der Bursche war kalt wie
ein Fisch, und es war schwer vorstellbar, dass unter seiner eisigen
Oberfläche das Feuer des Glaubens loderte. Aber der Camerlengo
hatte recht - es gab niemanden, der mit vergleichbarer
Effektivität heikle Probleme
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